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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 30.03.1899
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- 1899-03-30
- Erscheinungsdatum
- 30.03.1899
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2432 Nichtamtlicher Teil. 74, 30. März 1899. Empfinden steht für den größten Teil unserer modernen Welt außerhalb aller Ersahrungsmöglichkeit. Wie man Kindern nur unter besonderen Verhält nissen eine Dichtung in die Hand giebt, deren Gegen stand die Liebe der Geschlechter ist, weil das Organ fehlt, den Gegenstand zu fassen und zu begreifen, so wird man auch nur unter gewissen Voraussetzungen ein dichterisch wertvolles Gottesidyll von Jeremias Gotthel ^ den Kindern zu lesen geben. Eine in modernen An schauungen lebende Familie, in der das Wort -Gott ein leerer Klang ist, kann nicht die Vorbedingungen geben, die für eine solche Lektüre nötig sind. S. 51: Wenn es im Kinde eine Periode der Gewaltthätigkeit giebt, sollen wir sie durch die Lektüre verlängern und ihre Regungen steigern? S. 113: Es ist oft auf die schlimme Wirkung der in Jndianergeschichten beliebten Darstellungen von Greuel- thaten hingewiesen worden. Nieritz giebt darin der schlimmsten Jndianergeschichte nichts nach. S. 120ff.:Zu den unerfreulichen Dingen, die im Gefolge des deutsch französischen Krieges über die politisch geeinte Nation heraufkamen, gehört auch eine neue Hochflut der Jugend literatur. . . . Zunächst ist alle Kriegsdarstellung in ein rosiges Licht getaucht hell auf lodern die Flammen der Begeisterung, der Freudentaumel des siegreichen Kriegers wird kaum durch Tod und Not gedämpft. Dann schreiben die Autoren geschichtlicher Er zählungen aus einem politischen Glückseligkeitszustand heraus Die schweren Schäden und dunklen Flecken auf dem Bilde sind für den Jugendschriftsteller nicht da. S. 133: Bei Garlepp feiert die Preußenverhimmclung ihre Orgien Die preußischen Soldaten sind engelgleichc Helden; daß auch die Bestialität und die Feigheit ihren Anteil am preußischen Heere hatten, erscheint aus geschlossen. Das findet sich nur beim Feinde. S. 145: Es ist beschämend, daß das Eingestehen menschlicher Schwächen unseren patriotischen Schriftstellern so schwer wird. Wir reden und feiern uns in einen Ton hinein, der hoch über das menschliche Maß hinausgeht und gegenüber den Thatsachen Hohlheit und Heuchelei ist. Wre nah und menschlich berührt uns die häßliche, aber ehrliche Darstellung einer Menschenseele in der Schlacht bei Emil Zola. S. 152: Ein handfester Chauvinismus, der das -Deutschland, Deutschland Uber Alles» nicht als Ausfluß gehobener Stimmung, sondern als ethnographischen, politischen und wohl gar als philosophischen Grundsatz auffaßt, ist in weiten Kreisen des gebildeten Bürgertums obligatorische Gesinnung geworden. Dazu vergleiche man aus den oben erwähnten »Beiträgen zur litterarischen Beurteilung der Jugendschrift« S. 81; Man könnte seinen Schilderungen — es handelt sich um R. Keils -Quer durch China- — sehr oft das Motto vorsetzen: Wir Europäer sind doch bessere Menschen — und wir Deutsche insbesondere. Gelegentlich sieht er sich gemüßigt, die Deutschen noch über die anderen Europäer zu stellen, ohne einen vernünftigen Grund dafür anzusühren. S. 181 ff.: Wenn Elise Averdieck trotz alledem nicht die Höhe der dichterischen Vollendung erreicht, so liegt das meines Erachtens in zwei mit der Persönlichkeit der Verfasserin untrennbar verbundenen Eigentümlichkeiten. Sie war Lehrerin, und man darf nach der charaktervollen Artung ihres Wesens annehmen, daß sie es mit ganzer, zu den Kindern herabsteigender Seele war; demgemäß schrieb sie auch ihre Erzählungen als Lehrerin, indem sie sich ihr kleines Publikum vorstellte und jeden Satz nach der Wirkung auf die Zuhörerschaft berechnete Wir können diese Schaffensweise nicht als berechtigt im Reiche schöpferischer Kunst anerkennen Das zweite ist eine alle anderen Interessen der Verfasserin so sehr über ragende, ja überwuchernde Religiosität, daß die Muse oft ratlos dem daherbrausenden Strom frommer Em pfindungen und Erwägungen gegenübersteht. Da schweigt das realistische Gewissen völlig. Gebete und fromme Lieder sind bei ihren Kindern so häufig wie ja und nein; hinter jeder Freude und vor jeder Trauer steht Gott. S. 188ff.:Die spezifische dichterische Jugcndschrift können wir aus Gründen der Kunst sowohl wie aus Gründen der Päda- ogik nicht anerkennen. Bleibt also .... die große ittcratur, die von unfern Dichtern geschaffene Kunst .... Durch erfahrungsmäßige Untersuchung und Experi ment muß festgestellt werden, welche Dichtungen mit Genuß und ästhetischem Gewinn von der Jugend oder genauer von dem so oder so gearteten, dem so oder so vorgebildeten oder erzogenen Kinde assimiliert werden können Zwei Quellen aber können mit Hoffnung auf gute Ausbeute schon jetzt erschlossen werden, die biographischen Auslassungen über Jugendlektüre und die Beobachtungen sorgsamer und litterarisch gebildeter Eltern und Lehrer an ihren Kindern und Schülern. Den Anforderungen, die der Prüfungsausschuß an die Jugendliiteratur überhaupt stellt, kann man zum Teil zu stimmen, so vor allem der Betonung einer auch feinerein ästhetischen Empfinden zusagenden Form für die dichterische Jugendschrift. Sicherlich ist es ja verkehrt, den Geschmack erst in die Irre zu führen und es dem Zufall zu überlassen, ob er sich selbst wieder daraus zurechtfindet. Auch was über eine übertrieben hervortretende Tendenz in der Jugendschrift stellerei gesagt ist, trifft durchaus zu: sie ist nicht nur vom künstlerischen Standpunkt aus verwerflich, sondern verfehlt auch gerade bei den bestveranlagten Gemütern die Wirkung. So ist es denn wohl begreiflich, daß Ferdinand Avenarius im 2. Dezemberhcft 1898 seines »Kunstwart« zu Wolgast und den Bestrebungen des Hamburger Ausschusses über haupt so freundlich Stellung genommen hat. Hier heißt es S. 186: -Unsere heutigen Ausführungen haben ihren Zweck erfüllt, wenn sie den Kämpfern gegen das jetzige Jugendschriftwesen auch in unserem Kreise zunächst einmal wohlwollende Beobachter ge wönnen .... Wir denken in manchem Einzelnen anders als sie, im Grundsätzlichen und bei weitem auch bei den meisten An wendungen der Grundsätze stimmen wir ihnen mit herzlicher An erkennung und den allerbesten Wünschen für das Gedeihen ihrer Arbeit zu.» Aber ist schon hier die Anerkennung nicht ohne Ein schränkung gezollt, so wird der Leser auch aus den oben ge gebenen Citaten aus Wolgasts Buch starke Bedenken gegen eine unbedingte Zustimmung zu der Arbeit des Prüfungs ausschusses gewonnen haben. Mit solchen Einwendungen freilich, wie sie in der Januar-Nummer der Jugendschriften- Warte 1899 zum Abdruck kamen, ist ihm nicht beizukommen. Hier protestieren »hervorragende Männer und Frauen« gegen das Verdammungsurteil der vereinigten Prüfungsausschüsse über einzelne Schriften aus dem Grunde, weil deren An ziehungskraft sich bei den Kindern aufs glänzendste bewährt habe. Damit ist natürlich garnichts gegen die prinzipielle Stellung der Prüfungsausschüsse bewiesen; denn was die Kinder momentan fesselt, braucht deshalb noch nicht die ge winnreichste Lektüre für sie zu sein. Was wir gegen die Bestrebungen des Hamburger Prüfungsausschusses einzuwenden haben, ist allgemeiner Art und läßt sich in zwei Sätzen formulieren: 1) Die Erziehung zum litterarischen Kunstgenuß in der von: Hamburger Prüfungsausschuß geforderten Aus dehnung ist an sich unausführbar, und 2) sie gefährdet in der erstrebten Ausschließlichkeit andre, höhere Erziehungsziele, wie Vaterlandsliebe und Religion. Daß die Jugend durch gute Gewöhnung zu einer naiven Freude am Schönen erzogen werden könne und solle, liegt uns ferne zu leugnen. Aber sicherlich täuscht sich der Ham burger Prüfungsausschuß, wenn er meint, die großen Massen der Volksschüler litterarisch urteilsfähig machen zu können. Nicht nur an der von Wolgast selbst beklagten Unfähigkeit mancher Lehrer zu solcher Leistung muß das Unternehmen cheitern (vgl. S. 13, 80); das Schülermaterial wird sich nach wie vor solchen Experimenten gegenüber äußerst spröde ver halten. Daß die natürlichen Voraussetzungen fllr das Ge lingen beim Kinde durchschnittlich fehlen, giebt Wolgast selbst zu. Er betont dessen geringeres Erkenntnisvermögen, sein rückständiges Gefühlsleben (S. 29), die Schwäche und Un-
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