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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 02.09.1902
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- 1902-09-02
- Erscheinungsdatum
- 02.09.1902
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- Deutsch
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Nichtamtlicher Teil. Das russische Lesepublikum. Nach N. Nadeshdin.*) In russischer Sprache werden alljährlich gegen fünfund zwanzig Millionen Bücher in allen möglichen Wissenszweigen gedruckt. Verteilt man aber diese Zahl auf alle privilegierten Klassen, so ergiebt sich annähernd das Resultat, daß auf tausend Leser im Jahre kaum etwa drei Titel kommen. An Zeitungen und Zeitschriften erscheinen in Rußland im ganzen gegen 900, das ist weniger als sogar in dem durch seine Bücherarmut bekannten Spanien oder dem kleinen, aber lebendigen und thätigen Belgien, siebenmal weniger als in Deutschland, fünfmal weniger als in Frankreich, vier mal weniger als in England. Die Zahl der Buchhandlungen und Bibliotheken ist im Vergleich zu dem großen Flächenraum Rußlands ebenfalls sehr unbedeutend. Es giebt sogar Orte in Rußland, wo die Bewohner keinen Begriff von einer Bibliothek haben und dem Anschein nach auch gar kein Unbehagen darüber empfinden. Nehmen wir aufs Geratewohl einige Beispiele; so haben keine Bibliotheken Städte wie Narwa (außer einer sehr un genügenden Bibliothek des Mäßigkeitsvereins), Surash (im Gouvernement Tschernigow), Sump (im Gouvernement Charkow), Polozk u. a. Dabei sind alle diese Städte nicht etwa abgelegene Winkel; Polozk ist eine Gouvernements-, Narwa und Surash sind Kreisstädte, Sump ein sehr be lebter Handels- und Marktplatz. Von weniger bedeutenden Ortschaften, wie es deren in Weißrußland, Sibirien, Beffarabien, im Osten Rußlands in Menge giebt, soll hier gar nicht gesprochen werden. Umgekehrt kommt es auch vor, daß es in mancher Provinz zwar Biblio theken giebt, aber keine Leser; es ist noch gar nicht lange her, daß sich solche überhaupt nicht vorfanden in Simferopol, Bjelew, Nachitschewan. Manche Bibliotheken überraschen durch ihre geringe Leserzahl: 200, 300, 400 jährlich in Städten wie Pskow, Jekaterinoslaw, Jaroslaivl u. a. m. Die höchste Durchschnittszahl weist die Oeffentliche Bibliothek in St. Petersburg auf. Die Oeffentliche Bibliothek in Odessa hatte vor zwei Jahren nur gegen 6000 Besucher. Nicht weniger interessant ist es, sich einen Begriff davon zu machen, was in Rußland gelesen wird. Die Berichte der Bibliotheken und Buchhandlungen zeigen, daß sich der russische Leser vorzüglich mit Belletristik, besonders der über setzten, befaßt: »Die drei Musketiere« und Ponson du Terrail haben noch zahlreiche und wohlgeneigte Leser; in der »Billigen Bibliothek« Suworins finden die Erzeugnisse der dreißiger und vierziger Jahre von Marlinskij, Marke witsch, Pogorjelskij u. s. w. im Publikum massenhaften Absatz, sogar Karamsins »Arme Lisa« und Bogdanowitschs »Duschenjka« (Herzliebchen) iverden noch jetzt mit Vergnügen gelesen und wieder gelesen. Erfreulich ist es, daß sich der Leserkreis immer mehr aus Personen der unteren Klassen zusammensetzt — ein Beweis dafür, daß das Streben nach Bildung im Wachsen ist. So. ist aus einem Berichte der Oeffentlichen Bibliothek in Odessa für eins der letzten Jahre zu ersehen, daß die untere Klasse die bei weitem größte Zahl der Leser beigetragen hat: an Kleinbürgern 2115 Männer und 448 Frauen, an Ehren bürgern, Bauern, unteren Militärchargen über 2000 Per sonen beiderlei Geschlechts, während vom erblichen und per- *) Artikel -Entwickelung des Lesers- in Wolffs -Isvjsstija» für Litteratur, Wissenschaft und Bibliographie. 1902, Nr. 8—9. sönlichen Adel in demselben Jahre nur 813 Personen von der Bibliothek Gebrauch machten*) Der Beschäftigungsart nach stehen an erster Stelle Schüler; dann folgen Handlungsgehilfen, Fabrikarbeiter, Markthelfer, Handwerker, Handelsleute, sogar Tagelöhner und Dienstboten. Aehnliche Resultate wie die Odessaer Bibliothek weisen auch die Bibliotheken in Nischnij-Nowgorod, Samara und Charkow auf. Alle diese Thatsachen geben Zeugnis von dem charakteristischen Vorgang, daß ein neues Lesepublikum aus der Masse des Volkes ans Licht tritt, das noch vor gar nicht langer Zeit kaum lesen und schreiben konnte und ganz indifferent war. Nimmt man dazu noch andere charakteristische Er scheinungen, z B. die, daß in Odessa eine Volksuniversität ist und wohl gedeiht, daß verschiedene Kurse der angewandten Wissenschaften bald in dem einen, bald in dem andern der Handels- und Jndustriecentren abgehalten werden, daß die Bergleute im Ural das leider erfolglose Bestreben hatten, eine Volksuniversität mit einer landwirtschaft lichen Fakultät in Jekaterinburg zu errichten, und daß, um die letztere zu verwirklichen, die dortigen Bauern zu allen möglichen Opfern bereit waren, u. a. m. — so wird es klar, daß der Durst nach Wissen dort erwacht, wo noch vor kurzem Todtenstarre herrschte und den in kultureller Beziehung verarmten Massen der »Mittlern« Schicht zur Förderung gereicht. Der feinfühligste der russischen Belletristen der Gegen wart, Boborykin, hat vor vier Jahren dieses Zuströmen der Leser von unten her beobachtet und in seinem interessanten Roman »Tjaga« (Die Last) dargestellt. Er weist darauf hin, daß die Liebe zum Lesen unter der Fabrikbevölkerung immer größer wird. Unter den Arbeitern, sagt er, finden sich nicht wenige, denen alle mustergiltigen russischen Schriftsteller be kannt sind. Es kommen auch Leser vor (und ihre Zahl wird immer größer), die sogar mit Vorliebe Bücher speziellen Charakters, historische, populär-wissenschaftliche, solche über Naturkunde, Technik u. a. m. lesen. Die Helden der »Tjaga« ergehen sich in langen Betrachtungen über die verschiedenen soziologischen Probleme, die in dem bekannten Roman Spielhagens »In Reih' und Glied« berührt sind, und wenden sie auf ihre eigene Lage an. Diese Thatsache zeigt, daß sich der neue russische Leser nach und nach auf den richtigen Standpunkt stellt, nämlich sich daran ge wöhnt, das Buch mit dem Leben zu verbinden, dafür eine Anwendung in der lebendigen Wirklichkeit findet, es als einen Lehrer des Lebens aufnimmt und nicht bloß zum Zeit vertreib oder — noch schlimmer — nach der Methode von Gogols Petruschka liest (d. i. rein mechanisch, ohne den Sinn des Gelesenen zu verstehen). Die Berichte der Bibliotheken bestätigen die Aus führungen des. Verfassers in vollem Umfange. Die Ent nahmen von historischen Büchern haben sich bei der Odessaer Bibliothek im Jahre 1900 auf 5000 erhöht; bei der Charkower Bibliothek sind in demselben Jahre von derselben Büchergattung um 4 Prozent mehr entnommen worden als im Jahre 1898 Nach den historischen finden das meiste Interesse landwirtschaftliche Werke und Bücher über Natur kunde. In den letzten Jahren hat sich bei den Biblio- *) Die Standesverhältnisse sind in Rußland wesentlich anders als in Deutschland; so gehören dort zum Adel alle Staatsbeamten und Offiziere. Die städtische Bevölkerung zerfällt in die Kaufmann- , schaft und in die Kleinbürger. Das Ehrenbürgertum ist ebenfalls ein Stand, der ererbt oder erworben wird und eine Art Zwischen- ! stufe zwischen Adel und Kaufmannschaft bildet.
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