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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 07.03.1900
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- 1900-03-07
- Erscheinungsdatum
- 07.03.1900
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- Deutsch
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55, 7. März I960. Nichtamtlicher Teil. 1867 und Meißel an diesem Werk Mitarbeiten, will man nun der Polizei ausliescrn. Auch wir begrüßen Gesetze, die die Sittlich keit heben wollen, aber nicht Gesetze, die von Beamten ausgeübt werden, die davon kein Verständnis haben. Werden die Beamten verstehen können, daß das Nackte durch die Kunst geadelt wird? Das Höchste in der Kunst ist der Akt, d. h. der nackte Mensch, wie er aus der Hand Gottes hervorgeht. Cr wird es bleiben trotz allem Cynismus und aller Prüderie von Philistern und Tartüffes. Selbst die so sehr gewünschte religiöse Kunst, die jetzt zu einem Handwerk herabgesunken ist, wäre ohne das Nackte unmöglich. Auch ein übcrkleidctes Bildwerk erfordert eingehendes Studium des Aktes. (Sehr wahr!) Wenn der Abgeordnete Rocrcn in seiner- engherzigen Auffassung von der freien Kunst meinte, daß die deutsche Nation Sudermann entbehren könne, so würden wir Künstler uns ja nicht bei dem Urteil eines einzelnen Menschen aushalten; aber es ist vor der breitesten Oeffentlichkeit gesprochen worden, und deshalb müssen wir ebenfalls öffentlich dazu Stellung nehmen und erklären, daß wir diese Werke unseres deutschen Dichters um keinen Preis entbehren wollen, denn sie haben uns erschüttert, gerührt, begeistert. (Stürmischer Beifall). Die Herren vom Centrum scheinen dieKunst gar nicht für nötig zu halten. Ihnen sagen wir, daß die Kunst erst auf die Sittlichkeit das Siegel drückt. Die Bestimmungen sind um so unverständlicher, als wir vor dem großen Völkerwettstreit in Paris stehen. Es bedarf uns gegenüber keinerlei neuer Gesetze, und wir protestieren gegen eine solche Thätigkeit des Reichstages. Uns Bildhauern ist von so hoher Stelle fortgesetzt ein so großes Vertrauen und Verständnis bewiesen worden, daß wir uns nicht denken können, daß die Regierung den Beschlüssen Zustimmung erteilen wird. Unsere Hoffnung ist daher auch auf unseren Kaiser- gesetzt. — Kollegen und Freunde im Deutschen Reich! An Euch ist es, durch festen Zusammenschluß diese drohende Gefahr abzu wehren. Als zweiter Redner nahm Hermann Nissen als Vertreter der darstellenden Kunst das Wort. Wenn die Künstler so spät hervorgetreten seien, so liege das an dem unter dem Künstlervolk herrschenden Optimismus. In demselben Gesetz, das sich mit der Hefe der Menschheit, den Zuhältern, beschäftige, sollen die Künstler, Schriftsteller und Theater reglementiert werden. Ohne Partei unterschied sollten schon längst alle Ritter vom Geiste zusammen- stehcn, um gegen diese Verkoppelung von Zuhältertum und Kunst zu protestieren. Die einzelnen Bestimmungen, namentlich der Be griff -Sittlichkeits- und Schamgefühl-, sind so dehnbar und so individuell, daß alle möglichen Auslegungen möglich sind. Die Religion des Richters wird bei der Entscheidung ebenfalls maß gebend sein. Der Richter wird — bei aller Achtung seiner Partei losigkeit — immer geneigt sein, von vornherein etwas Strafbares anzunehmen, und er wird in den meisten Fällen der Kunst alles andere als Milde entgegenbringen. Cr ist ja Strafrichter und nicht Kunstrichter. Jedem Denunzianten bieten die Bestimmungen ein reiches Feld. Die Meisterwerke aller Zetten zeigen, daß ein an sich nicht einwandsfreier Stoff ins Reinästhetische gehoben werden kann. Diese feine ästhetische Unterscheidung kann der Strafrichter nicht ausüben. Haben wir nicht eine Theateccensur, die an unsere großen Geisteswerke Schrauben anlegt und desto mehr, je weniger sie die Geistesprodukte versteht? Unsere Klassiker wird man nun gereinigt auf der Bühne sehen. In Romeo und Julia erscheint Julia in der Scene: -Es war die Nachtigall und nicht die Lerche- im Nachtgewand. Romeo hat es sich auch be quem gemacht. Vielleicht erblickt die Prüderie darin eine Ver letzung des Schamgefühls und verlangt, daß der Darsteller in voller Rüstung erscheint. Und welche Strafe wird die Amme in demselben Drama treffen? Das ist qualifizierte Kuppelei! Darf in Zukunft Othello Desdemona im Bett erwürgen? Wird man noch -Oedipus-, -Kabale und Liebe- u. s. w. ausführen dürfen? Wie kann in Zukunft ein Künstler solche Dinge darstellen, ohne daß er wegen Verletzung des Schamgefühls denunziert wird? Darf sich Zerline in -Fra Diavolo- entkleiden? Wer verletzt hier das Schamgefühl: Zerline oder die Räuber? Darf auf unseren Hofbühncn -Traviata- überhaupt noch gegeben werden? Wie wird man in Zukunft vorsichtig sein müssen mit der Darstellung des letzten Aktes der -Haubenlerche»? Wer wird da büßen müssen: der Darsteller oder die Darstellerin (Ruf: beide). Und das Ballett! Muß es nicht ganz verschwinden? Wir werden es vielleicht we niger bedauern als die Männer, die mit züchtigem Augenaufschlag eine solche Vergewaltigung der Kunst vor der Nation und Ge schichte glauben verantworten zu können. (Stürmischer Beifall.) Für uns darstellende Künstler besteht noch eine besondere Gefahr. Man denke sich, ein Schauspieler weigere sich, auf Grund des 8 184b, eine Rolle zu spielen. Wer wird da recht bekommen, der Schauspieler, der bei der Darstellung bestraft werden kann, oder der Bühnenleiter, der ihn durch Hausstrafen zwingen kann? Wir stehen da vor einer Rechtsunsicherheit. Das gefährlichste Denunziantentum wird sich breit machen und die Bühne dem Muckertum ausliefern. (Zustimmung.) Wo bleiben Ibsen, Hauptmann, Halbe u. a.? Die lichtscheue Aftcrkunst wird bestehen bleiben. Sie weiß sich den Bestimmungen des Gesetzes schon zu entziehen. Aber die offene ehrliche Kunst wird als Opfer dem Muckertum überliefert werden. Wenn nun gar der Censor eine Stelle passieren laßt, macht er sich dann nicht mitschuldig? (Stür mische Heiterkeit.) Darum hinweg mit diesen verderblichen, kultur feindlichen Tendenzen in der lsx Heinze! Wir Schauspieler wollen nicht beurteilt werden nach dem Maßstabe der Prüderie, sondern nach unserem eigenen künstlerischen Wollen und Können. Der dritte Redner war Hermann Sudermann. lieber allen Jüngern der Kunst, führte er aus, wird jetzt die moralische Zuchtrute geschwungen; der eigentliche Prügelknabe scheint aber die dramatische Kunst zu sein. Wie geht es zu, daß wir als bsto uoirs vor Ihnen stehen? Wie geht es zu, daß man die Drama tiker, die man ein Jahrhundert lang für die Vertreter der höchsten Kunst hielt, als so entartet hinstellt, daß sie nur auf die niedrig sten Instinkte spekulieren? Seit unseren Geistesheroen Schiller und Goethe hatte die deutsche Dramatik sich in einer Schablone be wegt. Eine Betmühle von Fünfjamben-Dramen nannte man den deutschen Idealismus. Dann entstand eine neue Richtung. Wir haben jetzt ein deutsches Drama, das nicht mehr in Webers Welt geschichte nach Stoffen herumstöbert, das nicht mehr den Franzosen die Bühncnkniffe absieht und einen -Veilchenfresser- und -Jüngsten Leutnant« zu dramatischen Helden erhebt (Heiterkeit und Beifall). Wir haben ein deutsches Drama, das versucht, dem Jahrhundert den Abdruck seiner Gestalten zu zeigen. Aber das war den Zions wächtern von jeher ein Greuel. Die Anklagen, wie sie von den Bänken des Reichstages erhoben wurden, sind längst nicht mehr neu. Es ist nicht ein Kampf gegen das neue Drama, sondern gegen die neue Zeit überhaupt. Was aus der priesterlichen Be vormundung zur Selbständigkeit emporstrebt, war ihnen von jeher ein Greuel, und weil sie nicht die neue Zeit vernichten können, suchen sie das Spiegelbild derselben zu zerschellen, indem sie da? moderne Drama vernichten. Neben dem Sittlichkeitsbegriff ist jetzt noch ein ganz neuer Begriff: -die Verletzung des Scham gefühls- getreten. Der ehemalige Sergeant, der Böcklins und Rubens Bilder aus dem Schaufenster entfernen läßt, beschämt das Pensionsmädchen durch seine weit zartere Ausbildung des spezifisch weiblichen Schamgefühls (Heiterkeit). Noch schwerer trifft uns aber der zweite Punkt. Im alten Drama waren die weißen und schwarzen Schafe streng getrennt. Wir, die wir ins Leben hinein greifen, finden, daß es solche Tugendhelden und Bösewichter in Reinkultur nicht giebt. Aber ein Held, an dem auch einige schwarze Flecke vorhanden sind, wird denen, die Leben und Kunst morali sieren wollen, eine Schamverletzung sein. Wehe uns, wenn wir die gefallene Frau am Ende nicht eine exemplarische Strafe finden lassen, oder wenn die Sittlichkeit nicht durch eine Verlobung ver söhnt wird! (Stürmische Heiterkeit.) Das Gefühl für das Schick liche und Unschickliche wird in dem großen Strom der Zeit unauf haltsam mitgerissen. Die moderne Dichtung hat ein feines Ohr für das Neuaufsteigende und Untergehende. Aber jene Herren haben dekretiert: die Sitte wandelt sich nicht, sie ist festgesetzt durch Bibel und Katechismus! Macht sie einen Schritt nach rechts oder links, so kann es nur eine Sittenverwilderung sein. Und ein Drama, das das schildert, ohne zugleich die Schale des Zornes darüber zu ergießen, macht sich mitschuldig der Verlotterung und verletzt gröblich das Scham- und Sittlichkeitsgefühl. Von den er folgreichen Dramen der letzten Jahre kann nicht eins die Fall grube dieser Gesetzesbestimmungen passieren. Von meinen Dramen will ich nicht sprechen, ich bin ja genug durch Herrn Rocrcn gebrandmarkt. Es handelt sich nicht um Darstellungen, die Patriotismus und Trikot vereinen (Ruf: Charleys Tante!), auch nicht um die französischen Witzspiele. Es handelt sich um das ernste moderne Drama. Die -Weber», -Haubenlerche-, -Jugend-, -Talis man- (Ruf: Heimath-) würden auf der Bühne nicht mehr möglich sein (Zustimmung). Ein König in Unterhosen! welche Verletzung des selb- verständlichsten Schamgefühls. (Endlose Heiterkeit.) Sorgen erst Priester und Staatsanwälte für den sittlichen Geschmack, so wird auch das Essen von Hundefleisch als etwas Unsittliches und De- nunzicrbares gelten. Man darf wohl annehmen, daß man vor den Klassikern einige Scheu haben wird. Aber wenn nicht die Furcht, sich vor ganz Europa lächerlich zu machen, wäre, wer weiß, ob man uns nicht unseren Goethe und Shakespeare rauben würde. (Lebhafter Beifall.) Wie wird es sich in Zukunft gestalten? Eines Tages fällt es einem Tugendwächter, der die Kunstgeschichte durch stöbert, ein, eine Denunziation bei dem Gericht einzureichen. Das Gericht wird das Drama zunächst beschlagnahmen. Die Folge ist der Ruin des deutschen Theaterlebens. So wackere Leute unsere Richter sein mögen, das hat auch im Reichstag niemand geleugnet, daß sie im allgemeinen der Kunst weltfremd gegenüberstehen. Wie sehr wird es bei einem Urteil auf das gesprochene Wort, die Auf fassung des Ganzen ankommen. Wenn jemand dem Richter die bloße Inhaltsangabe des ersten Aktes der Walküre angeben würde, was könnte er anders als verdammen? Auch ich würde sagen, 250»
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