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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 26.04.1900
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- 1900-04-26
- Erscheinungsdatum
- 26.04.1900
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- Deutsch
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95, 26. April 1900. Nichtamtlicher Tech 3215 versagen. Auch haben sechs der zehn vernommenen Zeugen bekundet, daß die Ausstellung des Faust ihnen Aergernis erregt habe, und Marie Wildenhagen mußte zugestehen, daß ihr Schamgefühl durch die Schicksale Gretchens erregt worden sei. Bezeichnend für die sittlichen Wirkungen der Lektüre des Faust ist auch die Bekundung des bis vor kurzem bei dem Angeklagten bedienfteten Dienstmädchens Selma Schmitz, daß ihr Verführer, ein Unteroffizier, sich ihr mit den gleichen Worten zuerst genähert habe, wie Professor vr. Faust dem Gleichen. Wenn dem gegenüber die von der Verteidigung heran gezogenen Zeugen ausgesagt haben, sie hätten an dem Faust, an seiner Schaustellung im Habedankschen Schau fenster und an seinem Verkaufe nichts Anstößiges gefunden und kein Aergernis genommen, so kann dies an der Be urteilung wenig ändern. Nach der konstanten, insbesondere beim groben Unfug festgehaltenen bisherigen Rechtsprechung genügt die Feststellung, daß ein gewisser, wenn auch be schränkter, Kreis von Menschen sich durch die zur Klage Anlaß gegeben habende Strafthat geärgert und beunruhigt gefühlt habe; wenn bei einem anderen Kreise das nicht der Fall sei, so bedinge das nicht Straflosigkeit, denn sonst könne bei der verschiedenen Denk- und Auffassungs weise der Menschen überhaupt nie auf Strafe erkannt werden, da stets ein Teil an der inkriminierten Handlung keinen Anstoß nehmen würde. Der Nachweis, daß an der Ausstellung des Faust und an seinem Verkaufe nur sechs von zehn Zeugen Anstoß genommen haben, genügt also vollkommen zur Feststellung der Thatsache eines Aergernisses. Ebensowenig konnte der Anschauung der Verteidigung und des Angeklagten beigetreten werden, daß Goethe die Schuld Gretchens als eine sogenannte tragische Schuld dar gestellt habe, um mit ihrer Reue und Buße das Stück ver söhnend abzuschließen. Daß bloße Reue und Buße nicht ein mal genügend sind, ist bereits oben erwähnt. Aber, so fragte der Vertreter der Staatsanwaltschaft mit gewissem Rechte, konnte Goethe denn nicht Reue und Buße auf geringere Verfehlungen folgen lassen? Mußte er gerade die genannten Sünden darstellen? Vergleiche man den Faust mit vielen anderen Werken des bekanntlich ganz heidnisch ge sinnt gewesenen Goethe, so könne man sich des Gedankens nicht entschlagen, daß derselbe es mit der Vermeidung unsittlicher Gedanken nicht sehr ernst genommen habe, was auch durch sein Privatleben offenkundig bestätigt werde. Das Gericht konnte sich dem Gewicht solcher Anschauungen nicht ent ziehen. Auch daß die Stellung Goethes in der Litteratur als Ausnahmestellung anzusehen sei, konnte gerichtsseitig nicht als rechtlich von Belang anerkannt werden, da die selbe zur Ungleichheit vor dem Gesetze führen würde. Im Gegenteil: Goethe, aus guter Familie, Sohn eines kaiser lichen Rates, selbst Minister eines deutschen Staates, hätte die doppelte Pflicht gehabt, das Volk vor unsittlichen Ge danken bewahren zu helfen, und daß er dies vielfach nicht gethan, würde ihm, stände ec als Lebender vor Gericht, gerade angesichts seiner hohen Begabung als erschwerender Umstand angerechnet werden müssen. Aus allen diesen Erwägungen mußte das Gericht zu der Ansicht gelangen, daß der hier in Frage stehende erste Teil der Schrift »Faust« des mehrgenannten von Goethe im Sinne des tz 184s., ohne unzüchtig zu sein, das Scham gefühl gröblich verletzen könne und in den inkriminierten Fällen verletzt habe, und der Angeklagte also verurteilt werden müsse. Bei der Strasabmessung kamen zu gunsten des An geklagten seine bisherige Unbescholtenheit, sein offenes Ge ständnis und der Umstand in Betracht, daß er subjektiv, in Uebereinstimmung mit einer weitverbreiteten Anschauung, den Goetheschen Faust für ein empfehlenswertes Buch ge halten und als solches in seinem Geschäfte vertrieben habe. Als erschwerend dagegen mußte erachtet werden, daß er seinem eigenen Geständnis nach den Inhalt des Stückes genau gekannt hat, daß er den Reichstagsverhandlungen über den tz 184u aufmerksam gefolgt ist, danach wissen konnte und mußte, daß der Gesetzgeber, insbesondere die ausschlaggebende Centrumspartei, allerdings die sogenannten Klassiker nicht außerhalb des Gesetzes hat stellen wollen und können. Daß er gleichwohl zur Ausstellung des Faust verschritten ist und ihn außerdem einem Mädchen unter sechzehn Jahren gegen Entgelt überlassen hat, ist ihm als Trotz angerechnet und daher nicht auf Geldstrafe, sondern auf eine Woche Gefängnis erkannt worden. Die Aufer legung der Kosten entspricht dem Z 497 der Strafprozeß ordnung. — Alle schwiegen. Endlich unterbrach Lr. von Koehler die peinliche Stille mit der Frage: Lieber armer Freund, Sie sind doch einverstanden mit dem Versuche, die Revision durchzusetzen? Was soll das helfen, erwiderte Habedank. Das Gesetz ist nicht verletzt; im Gegenteil: alles ist ja so furchtbar wahr. Ich werde meine Woche schon absitzen müssen und will nur hoffen, daß meine Mitbürger mir diese Unehre nicht als solche anrechnen. — Ihr lieben Freunde, fuhr er sich straff emporrichtend fort, die Zeiten gehen anders, als wir damals dachten. Als ich verwundet auf dem Schlachtfelde von Sedan lag, als König Wilhelm an uns vorbeiritt, da schoß es in all meinen Schmerzen mir durch den Kopf: Der wird jetzt Kaiser, Deutschland wird einig, und dann ist alles gut. Und nun? Ich bin unter schwerer Berufsarbeit ergraut Wie oft, wenn ich abends oder Sonntags Zeit hatte, habe ich mir den Faust genommen und darin stets einen Jungbrunnen gefunden voll quellender Frische, reiner Schönheit und Lebensweisheit Wenn junge Leute mir im Laden den Faust abkauften, wahrhaftig, immer habe ich mich gefreut, nicht der lumpigen paar Pfennige wegen, sondern weil ich dachte: Schon wieder einer auf dem rechten Wege. Nun soll Faust unsittlich sein, und fanatische Eiferer mit ihren Helfershelfern dürfen unsere Gerichte als Büttel be nutzen, um dem deutschen Volke ihre verkrüppelte Welt anschauung aufzunötigen! Haben wir das verdient? Ist dazu das Reich unter Blut und Thränen, aber auch in Freude und Siegesjubel aufgerichtet worden? Gut, der Buchhändler Habedank wird ins Gefängnis wandern, weil er im Jahre des Heils 1900 Goethes Faust ausgestellt und verkauft hat. Mögen dereinst, wenn wir Alten längst Staub sind, andere Zeiten kommen, in denen die Christenheit, aber eine bessere, in Wahrheit den rettenden Osterchor aus dem Faust singen mag: Christ ist erstanden! Freude dem Sterblichen, den die verderblichen, schleichenden, erblichen Mängel umwanden. Am Ostermorgen 1900. Kleine Mitteilungen. Vom Reichstage. — Der deutsche Reichstag nahm am 24. d. M das Uebereinkommen zwischen dem Deutschen Reiche und Oesterreich-Ungarn zum Schutze von Werken der Litteratur, der Kunst und der Photographie (vergl. Nr. 66 d. Bl.) in erster und zweiter Lesung an. Post. — Im Verkehr mit den deutschen Postämtern in Beirut, Jaffa, Jerusalem und Smyrna sind hinfort Postaufträge und Nachnahmen auf Cinschreibbriefsendungen unter den für den Vereinsverkehr geltenden Taxen und Bedingungen zugelaffen. Die auf Grund der Postaufträge oder der Nachnahmebriefsendungcn 431*
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