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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 09.11.1867
- Strukturtyp
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- 1867-11-09
- Erscheinungsdatum
- 09.11.1867
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- Deutsch
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2870 Nichtamtlicher Thcil. 261, 9. November. Nichtamtlicher Theil. Die Klassiker als Nationaleigenthum. Mit dcm heutigen Tage endet das Schutzsystem aus dem Gebiete des Verlags unserer klassischen Werke in Deutschland! Von jedem Verleger, in jeder Form, für jeden Preis können dieselbe» jetzt auf den Büchermarkt gebracht werden. Ehre dcm geistigen Eigenthumsrecht, das den Schriftstellern wie ihren Verlegern den wohlverdienten Erwerb für eine gesetzlich bestimmte Zeit sichert! Dennoch wird die Nation den Termin, wo dieser Schutz der persönlichen Rechte aushört, mit Freuden begrüßen; denn jetzt tritt sie selbst auf den Schauplatz, um das persönliche Eigenthum in ein Nationaleigenthum zu verwandeln, um aus tau send frisch und frei sprudelnden Quellen zu schöpfen, was bis jetzt nur unter der Etiquette einer einzigen Firma verschickt wurde. Naher gerückt werden die geistigen Größen der Nation jedem Einzelnen, erweitert die Kreise, denen der Zutritt in ihre scgenspen- Lende Nähe gestattet ist. Erst der Besitz der Werke schasst ein inti meres Verhältniß zu den Schriftstellern und Dichtern; ein dauerndes Band — und in dicsenBesitz wird jetzt die Mansarde und der Salon sich theilen. Es war bisher ein Vorrecht des letzteren, sich durch täg lichen Umgang mit unser» geistigen Nationalschätzen zu befreunden, ein Vorrecht, dessen er sich lässiger bediente, als es sonst bei Privi legien Brauch zu sein Pflegt; die Mansarde war aus jenes weitver breitete Ausleihesystcm angewiesen, das zwischen den Musen und dem Publicum nur ein Verhältniß erzeugt von vergänglichem Reiz und vorübergehendem Einfluß, mehr ein geistiges Concubinat, als eine geistige Ehe. Und gerade der Mann aus dem Volke begnügt sich nicht mit jenem Kosten und Naschen bei geistigen Genüssen, wie es in fashionabcln Kreisen Mode zu sein Pflegt; auch nimmt er von flüchtigem Besuch keinen dauernden Eindruck mit fort; er will immer von neuem zuruckkchren zu dem geistigen Quell, aus dem er eine lebensvolle Erfrischung schöpfte; er will ein Werk, das ihn erfreute, besitzen als ein Eigenthum für das Haus und für die Seinen. Freilich bedarf es geraumer Frist, bis ein Dichter, und sei es auch der bedeutendste, festen Boden gefunden in den breiten Schichten des Volkes. Wohl verstehen einige mehr ul trosco zu malen und rascher die Sympathie der Massen zu erwecken; bei andern dagegen ist ein längerer Aneignungsprozcß erforderlich, eine nachdrückliche Vermittlung durch Kritik und Literaturgeschichte uud alle Organe der öffentlichen Meinung, um sie einzuführen in das Vcrständniß der Nation. Auch jene, welche im Sturm die Theilnahme erobert, sind des halb noch nicht in ihrem innersten Wesen erkannt. Auch hier bedarf cs langjähriger Vertiefung, um der eigenthümlichcn Bedeutung des Genius gerecht zu werden. So herrschen über unfern volksthümlichsten Dichter, Schiller, noch immer verkehrtere Anschauungen als über Goethe; die Meisterschaft seines dramatischen Slyls, auch nach der Seite der Charakteristik, ist noch immer nicht nach Gebühr gewürdigt, und cs muß erst ein Schuttgerölle kritischer Meinungen aus dem Wege geräumt werden, che uns die majestätische Gestalt unseres großen Tragikers in unverkümmerter Schönheit entgegentritt. Die Classicitat ist weder eine selbstverständliche Begleiterin des Genius, wie die Einen sagen, noch eine willkürlich sich bildende Mythe, wie die Anderen behaupten. Sie ist kein Heiligenschein, der mühelos die Stirn der göttlich Begabten umleuchtet; ebenso wenig ist sie der ausschließliche Lohn ihres schöpferischen Wirkens. Sie verlangt außerdem die Thäligkeit einer ganzen Nation, welche sich nicht nur zu jenen Genien bekennt, als zu ihren Meistern und Führern, sondern auch ihren Geist durch unermüdliche Aneignung in ihr eigenes Fleisch und Blut verwandelt. Die Geschichte der Kunst und der Literatur weiß von manchem Fiasco zu erzählen, welches unvergängliche Meister werke bei ihrem ersten Erscheinen erlebten; denn das Bedeutende wirkt oft nicht einschmeichelnd, sondern befremdend, und leistet gleichgültiger Ausnahme spröden Widerstand; doch im entgegen kommenden Vcrständniß entzündet es jene Begeisterung, welche er läuternd, erklärend, gleichsam mit ihren eigenen Flammen beleuch tend, nicht rastet, bis sich in immer weitern Kreisen der Jüngerschaft die Kunde sortpflanzt von den großen geistigen Thaten der Meister, und mit der Kunde Einsicht und Bewunderung, bis alle, was sie von selbst nicht erkannten, erkennen durch die geistige Arbeit der Berufenen, welche das Werk der Auserwählten fortführen. Die Physik kennt eine Bewegung, welche erzeugt wird durch die Kraft summe eines lang anhaltenden Muskeldrucks: so erzeugt auch die still sich anhäusende Krastsumme eines geistigen Wirkens zuletzt eine Be wegung der Geister, und auf literarischem Gebiet ist das Resultat solcher Bewegung: die Classicität. „Es fällt kein Meister vom Him mel", sagt ein alter Spruch, und mit größerem Rechte kann man sagen: es fällt kein Klassiker vom Himmel. Ja, die Geschichte weist sogar wenig Beispiele auf von so rascher classischer Heiligsprechung, wie dies bei unser» großen deutschen Dichtern der Fall ist. Bei einigen derselben darf man freilich von Uebercilung sprechen, denn das Verdienst um Fortbildung der Sprache und Literatur gibt wohl das Recht aus dauernde Erwähnung in literarhistorischen Werken, doch nicht das Recht auf Classicität. Den Stempel der letzteren trägt nur das unvergängliche, von Geschlecht zu Geschlecht mit gleicher Frische fortdauernde Werk. Wer aber von unseren literarischen Grö ßen, außer jenen unbestreitbar klassischen Dioskuren von Weimar, noch Lebenskraft genug hat, um spätere Geschlechter zu fesseln: das wird sich jetzt zeigen, wo sich ihre freigegebenen Schätze für Alle erschließen. Jedenfalls hat sich die Aneignung derselben durch die tausend fachen Canäle der Bildung, durch Schule und Bühne, durch Litera turgeschichte und Tagespresse jetzt soweit vollzogen, daß Jeder im Volke ihnen mit dem Verständniß ihrer Bedeutung entgegen kommt. Und so ist es mit Freuden zu begrüßen, daß gleichzeitig auch die äußeren Schranken fallen, welche noch zwischen dem Volk und seinen großen Lehrern standen. Zahlreich sind die Güter, auf welche eine Nation ein Recht hat stolz zu sein. Der gesammte Thatenschatz ihrer Vergangenheit, das unwidersprechliche Zeugniß ihrer geschichtlichen Sendung, mögen diese Thaten nun heldcnmüthigc Abwehr sein gegen den äußern Feind oder siegreiches Durchkämpsen einer innern harmonischen Staatsgestaltung, ist eins ihrer glänzendsten Besitzthümer. Doch nicht minder glänzend ist der geistige Schatz, den sie angehäufl in rastloser Arbeit, dessen herrlichste Juwelen aber dem Kronenschmuck des Genius angchören. Wie ein leuchtendes Wunder tritt er in die Welt, und doch ist er nur die Blüthe der ganzen nationalen Ent wickelung. Wenn seine Schätze, die lange unter Schloß und Riegel lagen, jetzt allgemeinerem Genuß geöffnet sind, so beginnt für jene Meister selbst eine neue Aera ihrer Volksthümlichkeit und ein breiterer Strom von Bildungselementen als früher fluthet in die Massen. So möge die Nation in der großen Epoche ihrer politischen Wiedergeburt sich kräftigen durch die erleichterte Vertiefung in die unsterblichen Werke ihrer Denker und Dichter. Die bürgerliche Frei heit ist ein hohes Gut, um so höher zu achten, je länger sie entbehrt worden; doch das höchste Gut ist die Freiheit und Selbstherrlichkcit des Geistes, wie sie aus jenen Werken in alle Lebensadern der Nation übergeht! Rudolf Gottschall.
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