^ 181, 6. August 1907. Fertige Bücher. Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. 7705 Die Wahrheit über Helen Keller! Mit diesen überlauten Worten zeigte s. Z. die „Harmonie" in Berlin das Erscheinen einer Broschüre: „Wie soll man über Helen Keller denken?" von Taubstummenlehrer Brohmer an. Da der Inhalt dieser Schrift alles andere als die Wahrheit über H. K. enthielt, so trat ich ihrer Verbreitung mit allen Mitteln hindernd entgegen. Meine damaligen Schritte werden nun heute in vollem Amfange gerechtfertigt, indem Herr Taubstummenlehrer Brohmer den Inhalt seiner Broschüre in allem Wesentlichen widerruft. Unter ausdrücklicher Anerkennung der achtenswerten Freimütigkeit, mit der Herr Brohmer seinen Irrtum zugibt, mache ich im folgenden seine Erklärung (mit einigen bedeutungslosen Weg lassungen) bekannt. Geehrter Herr! Anbei erlaube ich mir. Ihnen meine Erklärung zu übersenden. Wollen Sie von mir die aufrichtige Ver sicherung entgegcnnehmen, daß niemals verwerfliche Motive mich leiteten. Ich werde nicht verfehlen, auch anderwärts meinen Irrtum zu bekennen. Lochachtungsvoll Brohmer. „In meiner Schrift »Wie soll man über Lelen Keller denken?« habe ich auf Grund eigner theoretischer Erörterungen diehoheBildungL.K's. in Frage gestelltund bezweifelt, daß die »Geschichte meines Lebens« ihr alleiniges geistiges Eigentum sein könne. Seitdem Erscheinen meiner Schrift hat man mir von berufener Seite wieder holt nahegelegt, daß meine Annahmen nicht zutreffend seien, und es sind mir Bekundungen namhafter Amerikaner angeboren worden, durch welche mir gleichfalls Lelens hoher Bildungsstand bestätigt werden sollte. Lierdurch angeregt stellte ich weitere Nachforschungen über die Ausbildung und Erfolge L. K's. an, wobei mir besonders die vom Volta-Bureau in Washington ge lieferte Schrift »Helen Keller Souvenir II.« wesentliche Dienste leistete und mir genauen Aufschluß über die Vor bereitung L. K's. zur Aufnahme-Prüfung fürs Radcliffe- College und über diese Prüfung selbst gab. Zudem finde ich in der Schrift -Die Taubstumm blinden« des Taubstummenlehrers Niemann folgendes Zeugnis der Frau Anrep-Nordin in Venersborg, die langjährige Erfahrung im Taubblindenuntcrricht hinter sich hat, enthalten: „Ja, ich habe wirklich Lelen Keller kennen gelernt und mit ihr geredet und habe sie mehrere Stunden studieren können. Sie ist ein Wunder von Intelligenz und Kapazität. Ich begegnete ihr sehr zweifel haft und war entschlossen, Auge und Ohren offen zu halten. Miß Sullivan verließ uns bald, was mir die beste Gelegenheit gab, mich mit Miß Keller frei zu unter halten. Ich brauchte selten eine ganze Frage zu tun, bis die Antwort kam. Nach einer Weile redete ich sie deutsch an, und wir unterhielten uns ebenso fließend wie vorher. Wir redeten von Kunst, Geschichte, Poesie usw. und ich suchte sie zu verwirren, nie gelang es mir." Alles dieses zeigt mir, daß die Schlüsse, die I ich aus meinen theoretischen Erörterungen ge- I zogen habe, nicht aufrecht zu halten sind. Ich I erkenne das an und verhehle nicht, daß cs mir I nm Helen Keller willen leid tut, zu falschen Folge- I rungen gekommen zu sei«. Ich versage es mir, hier ^ Amstände zu kennzeichnen, die meinen Irrtum einiger maßen verständlich machen. Rudolf Brohmer." Hochachtungsvoll Stuttgart, Juli 1907. Robert Lutz. Börsenblatt skr den Deutschen Buchhandel. 74. Jahrgang 1006