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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 21.09.1907
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Band
- 1907-09-21
- Erscheinungsdatum
- 21.09.1907
- Sprache
- Deutsch
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- Saxonica
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221, 21. September 1907. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. 9435 Manche Leute gehen sogar so weit, daß sie sich auch literarisch immer nur in ihren Kreisen bewegen wollen. Ein Buch wird ihnen erst recht interessant, wenn eine Familie darin vor kommt »gerade wie SchmidtsI« oder »gerade wie Meyers!» Und welch intimen Reiz erhält ein Buch, wenn es an einem Badeort spielt, an dem man selbst vor zehn Jahren mal gewesen I Wenn man die Figuren eines Romans beinahe in der Rangliste oder im Adreßbuch nachschlagen könnte! Das ist doch für manche Leser die »persönliche Note». Nun zu den sehr verschiedenen, spezifisch, aber nicht dem Grade nach — verschiedenen Nachbarn. Wenn wir im An fang die Literatur im klassischen Faltenwurf trauernd ab seits stehen sahen, während die Leihbibliotheksmuse triumphierte, werden wir jetzt »literarisch». Ich schlage vor, wir tun einen Blick in den Bücherschrank einer jungen Dame in Berlin IV., in der Vellevuestraße oder am Kurfürstendamm. Hier hat man Geld, Bücher zu kaufen, und tut's auch. Wir finden außer französischen und englischen Philosophen, etlichen bis dahin ziemlich unbekannten exhumierten älteren Dichtern im Jnselverlag, den Romantikern und einer funkelnagelneuen Hebbel-Ausgabe — dieses alles ziemlich ungelesen aussehend — Maeterlinck (komplett), Ellen Key (auch komplett), »Liebe und Ehe- (recht abgegriffen), Chamberlains -Grundlagen» und -Kant- (etwa bis zum ersten Drittel gelesen), Nietzsche, Ibsen; von Gedichten Stephan George, Richard Dehmel und mivorss Asutss. Von Romanen -Peter Camenzind-, »Freund Hein-, -Buddenbrooks- — etwas im Hintergründe »Briefe, die ihn nicht erreichten»; ferner die neuesten Meisterdramen von Hauptmann und Wedekind. Ferner Wilde und Hofmannsthal. Broschüren »über Hauptmann-, »über Richard Wagner-, »überJbsen». Einen ganzenHaufen Goethe- Literatur. Auf dem Salontisch liegt natürlich das neueste Heft der -Neuen Rundschau». Sie staunen! Welch erlesenen Geschmack hat diese junge Dame! Was für ein feines, tiefes Wesen muß das sein! Meinen Sie? Ja, es ist allerdings fast alles »literarisch». Die Dahn und Wolfs und Ebers altmodischer Leute müssen da neben erröten. Aber merken Sie nicht, daß dieses im Grunde ganz dasselbe ist? Nicht ein erlesener Geschmack hat diese Schriftsteller, die zum Teil der wirklichen Literatur angehören, zusammengeführt, sondern — die Mode! Wenn man in den Familien von Bankiers, Künstlern, wohlhabenden Rechtsanwälten und fashionablen Ärzten Umschau hält, wird man viele Bücherschränke finden, die dem skizzierten aufs Haar gleichen. In manchen Kreisen gehört die Kenntnis der modernen Literatur ebensosehr dazu, wie in andern die des Gothaer und der Rangliste. Man würde sich lieber des Stehlcns silberner Löffel überführen lassen als der Unkenntnis des neuesten Hofmannsthal. Von Eitelkeit und Modernttätshascherei abgesehen, ist in diesem Leserkreis zweifellos auch wirkliches literarisches Ver ständnis vorhanden. Es ist ja auch der Kreis, in dem jeder — wenigstens jede dritte selbst schreibt. Dem naiven Lesepöbel fühlt man sich weltenfern. Man ist hier durchaus nicht naiv, durchaus nicht barbarisch; man schaudert mit mehr oder weniger Natür lichkeit vor der Gartenlaube und versteht ein Buch ziemlich sicher zu taxieren auf Wert oder Unwert. Literarischen selbstverständlich. Der Begriff -gutes Buch- ist überwunden. Man gebraucht den Ausdruck höchstens ironisch. Man wandelt durch den modernen Büchermarkt ähnlich wie durch eine Kunstausstellung, wo auch ein flüchtiger Blick auf die Bilder — oder in den Katalog — dem Experten sagt, welche Bilder er näher ansehen muß, an welchen er Vorbeigehen kann. Namenkenntnis, Schulung, natürliche Be gabung und schließlich — Geschäftssinn befähigen zu dieser sicheren Abschätzung. Man braucht übrigens gar nicht besonders viel zu lesen, um mitsprechen zu können. Ein halbes Dutzend Bücher im Winter genügt vollkommen, allenfalls auch die Rezensionen. Und im Sommer kann man sie ruhig wieder vergessen, denn im nächsten Winter wird wieder von etwas anderm gesprochen. Wenn die Idealisten, die in einem Buche das Wahre, Gute, Schöne suchen, vielleicht etwas zu sehr auf den menschlichen Gehalt sehen und zu wenig auf den künstlerischen, so überschätzen die »Kenner- wieder das literarische Cachet, und nehmen auch den barsten Blödsinn andächtig auf, wenn er von einem modernen Literaturheiligen ausgeht. Ein ungeschickt gemachtes Tendenzstück heißt dann eine »Problemdichtung-. Denn Tendenzen, auf die man so herablächelt, wird im Literarischen auch gehuldigt, nur daß sie dem Vernünftig-Sittlichen zuwiderlaufen, auf der Diago nale von Wahnsinn und Blödsinn stehen müssen. Wenn jene Leser von solidem Geschmack zu viel Wert aufs Sittliche legen, so fallen diese im Streben nach nur artistischer, entstofflichter Vorurteilslosigkeit vielleicht ein klein wenig in den Fehler, den poetischen Wert des Unsittlichen zu überschätzen. Die Frauen und Mädchen dieses Leserkreises stellen das Publikum für die erotischen Problemromane, in denen unter der Flagge von -Heiligkeit der Natur-, -Auslcben der Persönlichkeit», -Neue Ethik- und wie die Modeworte alle heißen und hießen, eine ziemlich gewöhnliche Sinnlichkeit sich ltteraturfähig zu machen sucht. Es gehört zur Vervollständigung des Charakterbildes dieses Lesers, daß er das Ausländische mit demselben, wenn nicht mit größerm Interesse verfolgt als das Deutsche, daß Strindberg, Gorki, d'Annunzio, Verhaeren und so viele andre ihm — dem Namen nach wenigstens — ganz vertraut sind, schließlich, daß bet ihm eine Goetholatrie im Schwünge ist, die mit dem Wilde- und Gorki-Kultus etwas wunderlich harmoniert und einem manchmal ein warnendes: -du sollst den Namen deines Goethe nicht unnütz lich führen I- entlocken möchte. Wenn man mit Chamberlainscher Weltanschauung gesalbt wäre, könnte man diese Lesersorte vielleicht die -ungermanische- nennen. Lieber Leser, du wirst ungeduldig! Du stellst fest, daß du zu all diesen Lesern nicht gehörst, und wartest, daß ich dein eignes Bild zeichne, das in der kleinen Schar begriffen ist, die die Spitze der Pyramide bildet. Dieser Leser ist nicht zu klassifizieren, denn er gehört keiner Klasse an. Cs sind einzelne, selbständig empfindende Menschen, die dem naiven wie dem raffinierten Pöbel gleich fern stehen. Sie sehen mit ernstem Blick auf das Treiben der Mode, den Götzen dienst vor den Tagesgrößen, und fast ist es ihnen peinlich, wenn einer ihrer Lieblinge vom Lärm des Erfolgs umtobt wird. Sie sprechen im allgemeinen nicht gern über Bücher; ihnen graut vor der Verständnislosigkeit der guten Barbaren, aber fast noch mehr fürchten sie die Geschmacksgemeinschaft mit dem literarischen Snobbismus. Denn ihnen ist -lesen- weder ein Zeitvertreib noch ein luxuriöser Sport, und ein Buch — d. h. eins von den Büchern, die sie lesen — als »Literatur» anzusehen, würde sie dieselbe Herab setzung dünken, wie von ihm Belehrung und moralische Stärkung zu verlangen. Sie fordern nicht vom Dichter, daß er sie unterhalte oder belustige, daß er ihnen Probleme löse und ihnen Unterhaltungsstoff für den nächsten Fünfuhrtee liefere. Sie fordern gar nichts von ihm, nur — daß er ein Dichter sei. Wenn er das ist, geben sie ihm willig und rückhaltlos ihre Seele. Sie meinen, daß ein Dichter eine Botschaft zu sagen habe, der man in Andacht lauschen müsse, daß man dem Dichter nicht vorschreiben dürfe: so mußt du sein! Sie genießen jede Schönheit, wie der schönheitsfrohe Wan derer sich in der Natur an jedem ihrer Wunder freut, an den unerwarteten großen Ausblicken mit weitem Horizont, an der keuschen Lieblichkeit der Blumen, die den Weg säumen .... Es muß betont werden, daß die Qualität als Mensch nicht mit der Qualität als Leser zusammenfällt — so wenig wie mit der Qualität als Künstler. Brave Gemütsmenschen können durch billiges Pathos weihevoll gestimmt und durch Banalitäten ge rührt werden, Leute von den solidesten Grundsätzen über das albernste, oberflächlichste Zeug in Entzücken geraten. Wir haben es hier ja aber nicht mit dem Menschen als Mensch, sondern als Leser zu tun. Und der Leser, der rezeptive Mensch, geht in allen Graden ziemlich parallel mit dem Dichter, dem produktiven Menschen. Wie ein lieber kluger Mensch doch nur Gesinnungs poesie liefert, wenn die Muse ihn nicht geküßt, so kann ein guter und verständiger Mensch doch nur den ethischen, oder allenfalls den rein formalen Wert eines Buches würdigen, wenn nicht in seiner Natur Anempfindung und Nachschaffensfähtgkeit ein Korrelat bietet zu der Empfindung und dem Schaffen des Dichters. Irgendwo in der Tiefe seiner Seele muß der selbst Künstler sein, der den Künstler versteht; nur wer stumme Lieder in der eigenen Brust trägt, dessen Seele wird klingen und erbeben, wenn des Dichters Bogen sie berührt. Aber der ideale Leser ist vielleicht eben so selten wie der echte Dichter. . . . 1829*
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