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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 19.10.1907
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Band
- 1907-10-19
- Erscheinungsdatum
- 19.10.1907
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- Deutsch
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- Saxonica
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10848 Börsenblatt f. b. Dtschn. Buchhandel. Fertige Bücher. 245, 19. Oktober 1907. junge Mgger Von einem Sohn unseres Peter Rosegger erschien ein Buch: Die Verbrecherkolonie. Wenn die Söhne berühmter Männer zu malen, zu dichten oder zu komponieren beginnen, wird alle Welt sogleich aufmerksam. Jahrzehntelang müssen Büchern, Bildern oder Sinfonien ihren Namen durch die Welt spazieren führen lassen, bis sich das ?. k. Publikum diesem Namen etwas zu denken beginnt, bis er ihm vertraut klingt. Auch beim Namen Rosegger horcht man sogleich auf. Was wird der „Junge" bringen? Wird er die Art des Vaters weiterzuführen vermögen, oder wird er unbegabt weit dahinter Zurückbleiben? Zuletzt denkt man an ein Drittes: Wird er am Ende Eigenes, selbständige, tüchtige Fähigkeiten zeigen? o , > > » , . ^ Und gerade dieses am wenigsten erwartete Dritte hat Hans Ludwig Rosegger erfüllt. Er ist ein anderer als sein Vater. Er kommt nicht aus stillen Berggegenden, er erscheint nicht innerlich gestählt durch freie Luft der Alpen, er bringt nicht den Frieden der Natur in seinem Herzen in die laute Stadt herein, sondern mit der ganzen innern Zerrissen heit des modernen Kulturmenschen blickt er auf das Leben. Peter Rosegger und Hans Ludwig Rosegger — zwei Welt anschauungen gegensätzlichster Art. Die «Verbrechcrkolonie» ist ein Jch-Roman. Der Held, Otto Georg von Godfreed, ver traut uns seine Geschichte in Tagebuchform an. Ewig schade, daß er einen so gesuchten Namen führt. Aber was er er zählt, ist interessant, nicht nur als Handlung, sondern in der Art, wie es erfaßt und zum Ausdruck gebracht wird. Ich habe eine herzliche Abneigung gegen ausführliche Besprechungen mit ausführlichen Inhaltsangaben. Außer ordentliche Ereignisse können, von Unfähigen geschildert oder dargestellt, künstlerisch mehr als minderwertig erscheinen, und ein einfacher Vorgang, von einem Dichter von Gottes Gnaden erfaßt, kann bei aller stofflichen Armut groß, hinreißend eigenartig wirken Folgt Inhaltsangabe. Die hier angedeuteten Ereignisse werden nicht am Ende mit wehmütigem Grundton vorgetragen, nein, Selbsthohn, Verbitterung, Cynismus umkleiden alles Mitgeteilte mit unheim lichem Schillern. Schon der Stil bezeichnet gut die zerfahrene, unruhige Art der hier zum Ausdruck gebrachten Stimmungen. In abgerissenen, oft von Gedankenstrichen oder Ausrusungszeichen unterbrochenen Sätzen wird alles wie atemlos, hastig, fast durchweg im Präsens, vorgetragen. Mit Vorliebe werden Anführungszeichen verwendet. Ungezähltes wird durch sie in eine den Grundton des Ganzen bestimmende ironische Beleuchtung gerückt. Die scharfe, höhnische Beobachtung, die der Held für die Schwächen seiner Umgebung zeigt, erstreckt sich auch auf das eigene Selbst. Verbitterung macht ihn ungerecht gegen alles. Aber das Buch packt doch ganz gewaltig. Wer von uns, die wir in einer Zeit ausgewachsen sind, die an allem rüttelte, an den Autoritäten des Glaubens, der Macht, der Kunst und des Wissens, wer von uns ist an den Zweifeln am eigenen Fühlen und Wollen verschont geblieben? Wer von uns versteht nicht diese marternde Selbstzergliederung des Innern, diese schmerzliche Selbstquälerei, der sich der Held der „Berbrecherkolonie" hingtbt? Er personifiziert den Trieb, alle seine Gefühle mit stahlharter Sonde zu betasten, indem er sich einen eigenen „Zensor" erfindet, den er, wann immer er sich Gutes und Edles zutraut, um Auskunft fragt. Und im Leiden und Genießen tritt dieser vom Verstand ausgesandte Wächter seines Innern heran, und kühl erwägend, weist er Godfreed im scheinbar Besten und Schönsten Schwächen, die den Genuß hemmen, Motive, die das Gute in seinem Wert einschränken, nach. Und so verbittert sich Herr Godfreed in dem Streben, „ein harter Landgraf über sein Inneres zu sein," die kurzen Freuden des Lebens. Wo findet man Änklänge an solche Stimmungen bei Peter Rosegger? Man denke sich seine innerlich gefestigten, herzerfreuend gesunden Landgeschöpfe neben diesen Helden oder gar neben diese von der Großstadt beeinflußte Heldin, neben Renate, die sich, aus einer ersten Familie, nach eigenem Geständnis verwandt fühlt jenen Gestalten, die nach Mitternacht auf der Friedrichstraße in Berlin dem Manne zu gefallen trachten? Vielleicht ein Wort eben dieser Renate auf den Widerspruch, den wir in der geringen inneren Verwandtschaft der beiden Dichter erblicken, die in nächster äußerer Ver wandtschaft stehen. Renate spricht einmal von „Kindern, die ausdenken, ausfühlen, ausempfinden wollen, ja aus empfinden müssen, was ihre Eltern versäumten." Je schärfer ausgeprägt in den Erzeugern gewisse Eigenschaften sind, um so leichter reisen die Gegensätze dazu in den Nachkommen. Ist die Lust am Widerspruche, die Schöpferin der sich überall berührenden „Extreme", die Ursache von solchem, oder finden wir hier eine Vorsichtsmaßregel der Natur, die An schauungen und Gefühle nie aussterben lassen will, die im Nächsten ergänzt, was im Vorausgehenden fehlte? Sei dem so oder so, jedenfalls wird dies Buch durch die fast unwillkürliche Anregung, Rosegger d. I. mit Rosegger d. A. zu ver gleichen, noch besonders interessant. Verwandtes zwischen beiden findet man hier kaum. Vielleicht liegt in den An schauungen über die Verwandbarkeit schwer und mit Recht bestrafter Verbrecher unter vorurteilsloser Leitung etwas von dem humanen Einflüsse unsres verehrten steirischen Dichters. Im Stil zeigt sich etlichemal trotz aller andern Einwirkungen die eine oder andere charakteristische Eigenschaft des Vaters. Rosegger hat manches bezeichnende neue Wort geprägt, das unserer Schriftsprache wohl erhalten bleiben wird. Wenn Hans Ludwig davon spricht, daß er sein Wägelchen auf schlechter Straße „rattert", so weiß man, wer ihm den Mut zu solcher ganz unglücklicher Bildung gab. Er geht aber weiter als der Vater, wenn er einmal versichert, daß jetzt ein freundliches Wort „wohlt". Einmal heißt es: „Der Bärtige hinter mir qualmt einen skandalösen Knaster"; plötzlich höre ich ein knurrendes „Ach waS" und eine Faust auf die Tischplatte niedersausen. „Wildling". Diese kecke, lebensvolle Art, eine Ansicht (hier einen Tadel) ohne Bemerkung, ob nur gedacht oder ausgesprochen, einfach als Ausruf anzufügen, wird jedem Kenner der Werke Roseggers vertraut erscheinen. Aber — solche Anklänge finden sich selten, die Gegensätze herrschen vor. Die Natur spielt in der „Verbrecherkolonie" nicht die schöne Rolle der großen Trösterin wie bei Peter Rosegger. Die Helden des Buches sehnen sich auch gar nicht nach ihr. Statt stiller Ländlichkeit suchen sie fashionable Badeorte auf. Die hohe sittliche Auffassung des Leidens als einerläuternden Macht, die der Dichter des „Waldschulmeisters", des „Ewigen Lichts" zeigt, ist hier nicht zu finden. Daher auch statt stiller Ergebenheit und abgeklärter Weltbetrachtung Verbitterung, Auflehnung, Verzweiflung. Peter Rosegger hat entweder warmes Wohlwollen oder gutmütigen Spott für die Menschen. Hans Ludwig ärgert sich über alles ernstlich. Er regt sich über den protzig tuenden, fetten Spießbürger auf, er ärgert sich über die „Hemdärmelgemütlichkeit" des aufdringlich Vertraulichen und er scheut die charakterlose „Rasselosigkeit" der großen Masse. Hans Ludwig schildert das Sterben eines armen Mädchens. Die Heiligenbilder, schlechte Farbendrucke über dem Bett erregen sein Mißfallen. Er findet sie „abstoßend". Peter Rosegger und mit ihm jeder ältere Schriftsteller, der nicht durch die „Kunsterziehung" unserer Tage gequält wurde, hätte nur die fromme Gesinnung, die darin zum Aus druck kommt, gemerkt. Er glaubt an keine Ideale; der nervös gewordene, alles kritisch mit dem Verstand erfassende, übersättigte und übermüdete Städter spricht aus jeder Zeile. Die gesunde, fröhliche Art, die friedliche Weltanschauung Peter Roseggers sucht man hier vergebens. Roseggers Kunst wird als echte Kunst immer verstanden werden. Hans Ludwigs Roman ist gleich den meisten schon durch den Zusatz „modern" unbewußt als vergänglich gekennzeichneten Arbeiten vor allem ein interessantes Kulturdokument, ein beredtes Zeugnis für die Gefühls und Anschauungsweise des jungen Geschlechtes unserer Tage. Das ist immerhin nicht wenig. Der Roman
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