9364 Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhanvcl. Fertige Bücher. 159, 9. Juli 1924. INI". N01.0 irr Zer IHsnIvfnrter ?.eitun^> vorn zo. Irin, 1924: Der Erfolg der im Rowohlt Verlag (Berlin) erscheinenden Balzac-Ausgabe — die in den schön gedruckten und bequemen Taschenausgaben ein so leicht fliegendes Lesen ermöglicht, wie es dem Tempo und dem Spannungstrieb des großen Ge schichtenschreibers zukommt — bedeutet mehr als eine momentane buchhändlerische Sensation, sondern die Erkenntnis, daßBalzac mit derSprache desGenies zu unserer Gegenwart genau so deutlich redet wie zuderZeit vor hundert Jahren. Man muß sich darüber klar werden, daß das Balzacsche Werk erst in seiner Gesamtheit den un geheuren Erlebnishorizont dieses einzigen Sehers ahnen läßt und daß man aus seinen Büchern - achtzig vollendeten und etwa vierzig unvollendeten Romanen — das unverhüllte Schicksal derMenschen so kraß gewahr wird wie nur noch im Anblick der Shakespeareschen Geistesmasse: als Fülle, Leben und Notwendigkeit. Der übliche literarische Maßstab, der die Kunstwerke nach Stil und Material in ihrem gegenseitigen Verhältnis bewertet, versagt vor der Einheit eines Darstellers, der mit der genialen Leichtfertigkeit seiner Feder und ohne bedenkliche Vorbereitungsmühen so eigentlich nur „erste Würfe" aus der Inspiration entläßt — der krasseste Gegensatz zu dem wissenschaftlichen Zola oder zu dem stilbedachtcn Arbeiter Flaubert, der sich im Einzelwerke komprimiert. Balzac aber „breitet" sich aus: überströmend mit oft kolportagehafter Lust am Klatsch der Parzen. Man muß die Fülle bei ihm lesen — und die Menschliche Komödie fängt zu spielen an. Unter den neu erschienenen Bändchen, deren erste Serie hier im Dezember bereits besprochen wurde (und deren vorzügliche Uebersetzer z. T. dieselben geblieben sind: Rosa Schapire, Emmi Hirsch- berg, Hugo Kaatz, v. Oppeln-Bronikowski, dann Ernst Weiß, E. A. Rheinhardt u. a.), finden sich neben der bekannten „Geschichte der Dreizehn", den Novellen vom „Oberst Chabcrt", von der „Pier- rctte" und dem Bändchen „Nebenbuhler" einige der hochberühmtcn Hauptwerke: die Lear-Tragödie des „Vater Goriot", des besten Vaters aller Väter, der in der armseligsten und grauenvollsten Pension zugrunde geht, während seine schönen Töchter die Salons der Haute-Finance schmücken; die Geschichte vom armen „Vetter Pons", der von der Habgier seiner reichen Verwandten zu Tode gemartert wird: ein veritables Gegenstück zur „Tante Lisbeth"; dann „Die Frau von dreißig Jahren", deren Psychologie zur Gestaltung eines allgemeinen Typus führte, wie in neuester Zeit die Frau von vierzig Jahren das „gefährliche Alter" repräsentiert; ein Bändchen „Volks vertreter", das den „Deputierten von Arcis" und „Die Beamten" charakteristisch vereinigt; das „Buch der Mystik" mit den okkulten Ausschweifungen in die Atmosphäre Swedenborgs („Sera- phita") und mit den aufreizenden Geschichten von „Jesus-Christus in Flandern" und von den, Philosophen „Louis Lambert". Unter allen eine Perle, fast ebenbürtig dem „Goriot", die Schilde rung von „Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang": die Tragödie eines dummen Kleinbürgers, der durch das Geld zum Großbürger wird, ohne von der Klugheit des Geldes gewitzigt zu werden — und daher einen geradezu heroischen Bankerott durchkämpft. kitte bescltten 8ie 6ie nächste 8ette!