U 2K9, 17. November 19L5. Fertige Bücher. Es war in der Tonhalle zu Zürich, wo Gottfried Keller gelegentlich gern bei einer Flasche Wein am „Professorentisch" mit Johannes Scherr, Gottfried Kinkel u. a. abends zusammensaß. Einmal kam die Rede aus die „Schriftstellers! aus Damensedern" und Kinkel spielte höchst ungalant auf die Retterinnen des Kapitols an. Da fuhr Gottfried Keller dazwischen: „Was. Geschnatter! Es ist wahr, es schreiben viele, und sie werden die Männer bald ins Gedränge bringen — aber, das ist eben der Teufel, sie können was. Da will ich euch mal eine Geschichte erzählen, wie es mir hierbei ergangen: Ich hörte einmal einen gewissen Autor entsetzlich auf die Marlitt schimpfen — er schrieb selbst Romane" — setzte Keller mit einem boshaften Lächeln hinzu. „Wenn man derartig gegen jemand loszieht, muß etwas an der niedergedonnerten Person sein, dachte ich mir und ließ mir einen Band von der .Garten laube' konimen. Es stand die .Goldelse' darin. Nun, ich Habs," suhr Keller nachdrücklich sori, „nicht allein diese Geschichte, sondern auch noch manche andere von ihr gelesen, und zwar von A bis Z, und habe keine Langeweile verspür!, im Gegenteil, ich habe das Frauenzimmer, die Marlitt, be wundert. Das ist ein Zug, ein Fluß der Erzählung, ein Schwung der Stimmung und eine Gewalt in der Darstellung dessen, was sie sieht und fühlt — ja, wie sie das kann, bekommen wir alle das nicht fertig. Wir wollen nur nicht ungerecht sein, und der Schwächen wegen, die sie auch hat, ihr das wegstreiten! — Und dann noch eins," sprach Keller in großem Ernste weiter, „es lebt in diesem Frauenzimmer etwas, das viele scheisistellernde Männer nicht haben, ein hohes Ziel; diese Person besitzt ein tüchtiges Freiheitsgesühl, und sie empfindet wahren Schmerz über die Unvollkommenheit in der Stellung der Weiber. Aus diesem Drang heraus schreibt sie. In allen Romanen, die ich von ihr gelesen habe, war immer das Grundmotiv, einem unterdrückten Frauenzimmer zu der ihr ungerechterweise vorent haltenen Stellung zu verhelfen, ihre Befreiung von irgend einem Druck, damit sie menschlich frei dastände — und hierin besitzt die Marlitt eine Kraft, das durchführen zu können, eine Macht der Rede, eine Wortsülle, eine Folgerichtigkeit in der Entwicklung ihrer Geschichten, daß ich Respekt vor ihr bekommen habe.- — Setzt die Marlitt nicht herunter," schloß Keller die für ihn so ungewöhnlich lange Rede, „in dem Frauenzimmer steckt etwas von dem göttlichen Funken, und das erkennen alle an, die reinen Herzens sind, vorab die Jugend." Ähnlich hat sich Pros. l)r. Cornelius Gurliit, der weltbekannte Volks- erziehet, einmal über die Marlitt geäußert, der einer Frau folgende Worte in den Mund legte: „Für mich war die viel geschmähte Marlitt die wirk samste Erziehung. Es war mein Ehrgeiz, es den anmutigen, reinen, vor nehm denkenden und hochgestimmten Frauengestallen ihrer Romane gleich zu tun. Die Marlitt hat vie jungen Mädchen meiner Zeit zuden weiblichen Tugenden erzogen. Zu diesem Bekenntnis gehört heute ein gewisser Mul, weil eine, wie mir scheint, irreleitende Literatur diese weiblichen Tugenden als Bcweiscder Rückständigkeit so verächtlich und lächerlich gemacht hat,daß die mondaine Frau mit reichem Vorleben und häufigem Ehewechsel der sogenannten Spießigen, weil gewissenhaft und treuen, vorgezogen wird."