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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 06.06.1913
- Strukturtyp
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- 1913-06-06
- Erscheinungsdatum
- 06.06.1913
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- Deutsch
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6030 Börsenblatt f- d. Dtschn. Buchhandel. Redaktioneller Teil. ^ 128. 6. Juni 1913. Nach einer Weile setzte sich eine zweite Fabrikarbeiterin — es war ein Sonntagmorgen — zu uns. Auch sie hatte ihre Lek türe mitgebracht, ein Buch in dem grell gelben Umschlag der großen Leihbibliothek Richard. Sie begann emsig zu lesen. Da knatterte das hübsche Privatmotorboot von Ouchy her vorüber. Neugierig versolgten die beiden Mädchen seine rauschende Fahrt durch das grüne Wasser. Dann kamen sie ins Plaudern. »Was lesen Sie?« fragte die eine. »Die blutige Dämonin«, antwortete meine Nachbarin und zeigte sensationsbewegt das bunte Titelbild ihres Heftes. Eine schlangendürre Dame mit feuerrotem Haar und grünen rollenden Augen hieb mit einer Peitsche aus einen am Boden liegenden Jämmerling ein. »Sie sollten es einmal lesen«, ermunterte sie eindringlich, »es ist schrecklich grauenvoll.« Die kleine Schwarze schüttelte den Kopf. »Ich mag diese Zeh» Centimes-Bücher nicht mehr«, sagte sie, »cs gibt viel schönere Romane. Kennen Sie das hier?« Sie schlug das erste Blatt ihres Leihbibliothelbuches auf und las den Titel vor: »Ullitib äe k'orgM, Mr devrges Otinet«. »Es ist herrlich.« Und nun erzählte sie. Ihr Freund hätte sie eines Abends ins Cincma Modern geführt, und dort habe sie das Kinodrama »Naitrs ck« korgW« gesehen, und auf dem Plakat hätte gestanden: »nach dem berühmten Roman von Georges Ohnet«. Und das Kinostück sei so schön gewesen, daß sie ihre Ersparnisse zusammen gerafft und sich bei Richard abonniert habe, um den ganzen Roman kennen zu lernen. Und nun werde sie alles lesen, was der große Dichter Georges Ohnet geschrieben habe. Seit jenem sonnigen Frühlingsmorgen im Park der Villa Diodati habe ich überhaupt erst »Anschauungen über den Einfluß des Kinos auf Literatur und Buchhandel«. Ich glaube, die Frage, inwieweit der Film die Literatur beeinflussen kann, ist nicht durch Nachdenken und Meinungen, sondern allein durch das Leben selbst zu beantworten. Mir hat das Leben diese Frage durch den Mund der kleinen schwarzen Fabrikarbeiterin beant wortet. Ich sehe in diesem jungen Mädchen einen typischen Fall. Sie hat bisher blutige Schauerromane gelesen und ist durch den Film zum Hüttenbesitzer geführt worden. Sie wird auch die anderen Werke Ohnets lesen, ihr Geschmack wird sich läutern, von Ohnet wird sie zu anderer, vielleicht besserer Lektüre noch hinllbergleiten. Das ist für mich der Einfluß des Films auf die Literatur. Der naive Mund dieses Mädchens hat mir auch einen an deren Zweifel zerstreut. Nein theoretisch möchte man annehmen, daß cs jemanden, der einen verfilmten Roman auf der Lein wand sieht, nicht mehr danach gelüstet, nun das Original im Buch kennen zu lernen. Man sagt sich: der Kinobesucher hat im Film das Spannende des Buches, die nackt herausgeschälte Handlung kennen gelernt, sein Interesse an dem Werk ist jetzt befriedigt, all das andere, das ein gutes Buch macht: die Schön heit des Stils, die Kunst der Darstellung kann nun nicht mehr locken. Heute weiß ich, daß diese Ansicht ein Irrtum ist. Es lebt in jedem Menschen eine schöne Neugier, die ihn dazu treibt, von dem, was einmal seine Teilnahme gewonnen hat, alles zu erfahren. Diese edle Neugier ist innig verwandt mit dem Triebe, der überhaupt zum Buche und zur Schaukunst führt. Es würde zu weit führen, hier des Näheren zu untersuchen, welche Instinkte es sind, die den Menschen zur Literatur und zur Schaubühne führen. Soviel steht aber fest: es ist ein unbewußtes starkes Verlangen, seinen eigenen engen Lebensbezirk zu erweitern, von Menschen, Dingen und Gegenden zu erfahren, die außerhalb des eigenen Daseinskreises liegen, es ist eine Art veredelter Neugier. Und sie scheint die Eigentümlichkeit zu besitzen, sich nicht an Bruchstücken zu sättigen. Sie will alles v.on den Menschen und Dingen erfahren, die einmal in ihren Bannkreis getreten sind. Darum gab jene junge Arbeiterin sich nicht mit der Handlung des Ohnetschen Romans zufrieden, die sie auf der Leinwand sah, sie wollte alles wissen, alles von dem braven Hüttenbesitzer und der schönen stolzen Clane. Das ist das Ewig-Menschliche des Falles. Die bewegten Schemen des Kinos werden die er weckte Neugier nicht voll befriedigen, wenn sie weiß, daß der Film nur ein Auszug eines Größeren, Weiteren ist; sie werden den Besucher des Filmtheaters weiterdrängen zum Originale selbst, zum Buche. Das ist meine Ansicht. Sie wird noch durch folgende Er kenntnis bestätigt. Ich habe in manchem Gespräche erfahren, daß weitaus die meisten, auch recht »literarische« Frauen zu nächst in dem Buche blättern, vorn, in der Mitte, am Schlüsse des Romans, und daß sie erst dann, sozusagen über das Schick sal der Helden beruhigt, an die Lektüre des Ganzen gehen. Auch diese Frauen haben ja von vornherein schon die Spannung, die in dem Buche lebt, ausgeschaltet, sie wissen genau, wie alles kommen wird und daß Anne Marie und Anton sich nicht »be kommen« werden. Und doch bleibt die Neugier wach. Ist dieses Wissen nicht dem Zustande des Kinobesuchers verwandt? Auch die schöne Leserin weiß genau, was schließlich und wie es kommen wird. — Und dennoch zittert die Neugier und treibt zur Lektüre. Alfred Schirokauer. Ich glaube um so mehr zur Beantwortung Ihrer An frage berechtigt zu sein, als ich über ein Jahr lang als Regisseur und »Hausdichter« bei ersten Berliner Firmen der Filmbranche angestellt war, nebenbei aber ein Dutzend Theaterstücke der Bühne gab und etwa 300 größere oder kleinere Novellen und Romane für Familienblätter schrieb. Filmstoffe habe ich mehr als ein halbes Hundert »verbrochen«, unter anderen auch solche, in der die berühmtgemachte Asta Nielsen auftrat, inszeniert teils von mir selbst, teils von ihrem jetzigen Gatten Urban Gade. Sie fragen, welchen Einfluß der Kino aus Literatur und Kunst nach meiner Ansicht ausübe? Den denkbar schlechtesten! Ob es dem Autor und dem Buchhändler förderlich ist, Buchwerke auf der Leinwand erscheinen zu lassen? Ganz gewiß nicht, weil in jedem einzelnen Falle und unter allen Umständen ein Zerr werk herauskommt, herauskommen mutz! Momentan und gewiß noch lange Zeit wird der am meisten begehrte Stoff für die Kinobühne grob, sensationell, hintertreppenmätzig bearbeitet sein müssen — sofern es sich um Romanstoffe handelt. Die Berech tigung eines Films, als Kunstwerk betrachtet zu werden, hat einzig die wissenschaftliche Aufnahme. Ich habe genau dasselbe meinem berühmten Kollegen Hermann Sudermann in der General versammlung der Deutschen Autoren gesagt, als es galt, einen Beschluß durchzudrücken, der den großen Männern des Ver bands erlauben sollte, das glänzende Angebot einer Berliner Kinofirma anzunehmen. Der Antrag wurde gegen einige wenige Stimmen, die sich in schärfster Weise gegen eine derartige Schä digung aussprachen — unter anderem nannte Otto Ernst in einem Telegramm einen solchen Beschluß »geistigen Selbstmord« —, angenommen. Der Verband selber schnitt dabei finanziell sehr gut ab, denn die Filmfirma zeigte sich, um ein paar große Namen zu erhalten, sehr generös. Ich weise nur auf die entsetzliche Bearbeitung von Romanen wie »Der Eid des Stephan Hüller«, »tzuo vsäis«, »Das gefähr liche Alter« u. v. a. hin. Wer diese Machwerke betrachtet, wird keine Lust mehr verspüren, den betr. Roman kennen zu lernen. Auch Werke von allerersten Autoren wie Sudermann können ganz einfach nicht künstlerisch auf die Leinwand kommen, dem steht die ganze Art der ai kreseo arbeitenden Technik gegenüber, welcher das Wort fehlt. Ein jeder Roman, auch der geistreichste wird, und wenn er zehnmal unter »künstlerischer Kontrolle« gearbeitet, das heißt »gestellt« ist, nie anders wirken, als »hintertreppenmäßig«. Wer, wie ich, einige Tausend mo derne Filme gesehen hat und etwa ein Hundert selber stellen mutzte — mit Ausmerzung jeder Szene, die etwa handlungs arm war, wird mir recht geben. Daß das heutige Kinofieber einem Kreise von Fa brikanten und einigen Hundert technisch eingearbeiteten Autoren oder Regisseuren eine Zeitlang guten Verdienst bietet, soll nicht bestritten werden. Dafür ruiniert der Kinorummel aber auch in nicht gutzumachender Weise schon jetzt zahlreiche Theater, Va- riötös und verdirbt ebenso gründlich den guten Geschmack des lesenden Publikums, das immer stärkere Nervenreize verlangt. G. Schätzler-Pcrasini.
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