ILS3S X- 294, 18. Dezember 1926. Fertige Bücher. SSrI-nri»«I. d. Dtlchn. Buchhandel. Seiten aufschlägt, tragen sie den Schein einer Schönheit, die ohne Makel, und die Gesetzmäßigkeit eines Ablaufs, die volle Wahrheit ist. Was heißt demgegenüber Entlehnung, was Plagiat oder Herkunft des Materiellen, man ver gesse doch nicht, daß diese Begriffe in Sphären liegen, die ohne Raum und ohne Atem sind. Seit es Welten gibt, wo immer sich Reiche des Geistigen bildeten, gab es nur eine einzige Sphäre, in der alle Begriffe des Seelischen Maß und Halt, Verurteilung oder Rechtfertigung erhielten, die Sphäre des Schöpferischen, die Kunst. Man sollte also nicht diese Begriffe an das Buch, sondern dies Buch an jene Begriffe anlegen, und wenn sie sich als albern oder langweilig Herausstellen, sollte man sie abbauen oder übergehen. Begriffe wie Menschen, alles, was nicht fühlt, daß dieses Buch jenseits der Nachprüfung steht und aller literarischen Intellektualismen. Daß von ihm jene erregende Sicherheit ausgeht, daß sich etwas Notwendiges und Neues unausweichlich auf einen zu bewegt, jenes „Lawinengefühl", wie ich es nennen möchte, das aufsteigt aus der großen mythischen Epik, sei es „Segen der Erde" oder dem russischen Roman. Ob dabei die Namen aus dem Pitaval oder aus dem Nibelungenlied stammen, das tritt wohl ganz vor dem zurück, daß jeder Zug durch atmet und durchströmt wird vom Herzen einer Schöpferin. Die Sanzara un- -er Pitaval von Paul Viegler er Fall der Rahel Sanzcira ist zu begutachten. Man hat geschrieben, daß ihr Roman „Das verlorene .Kind" genau so im „Neuen Pitaval" stehe. Und das reicht über diese Autorin und ihr Werk hinaus in tiefere Fragen des erzählerischen Schaffens. Denn es kommt darauf an, ob und wie Phantasie einen Stoff verwandelt. Was der „Pitaval" ist, weiß man von Schiller her (der auch den „Verbrecher aus ver lorener Ebre", die Geschichte kies Sonnenwirts Friedrich Schwan, Abels Sammlung „merk würdiger Erscheinungen aus k>em menschlichen Leben" entnommen hat). Ein Gegenstück des „Pitaval" sind Feuerbachs (de s Kaspar-Hauser-Feuerbach) „merkwürdige Kriminalrechtsfälle" und „Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen". Hitzig und Häring haben die Pitaval-Serie in dem (dann noch erweiterten) „Neuen Pitaval" fortgesetzt. Diese vielen Bände waren das Arsenal für jeden nachdichtenden Bearbeiter von Kriminalstoffen: der Halsbandgeschichte und des Scksinderhannes, des Prozesses La Ronciöre (durch Sven Lange), der verschollenen Affären, die Wassermann in „Sara Malcolm" und „Llarissa Mirabel" wieder erweckt hat, des Prozesses von Tisza Eszlär, der mit den Namen Esther Solymossi, Moritz Scharf, Onody auch in Arnold Zweigs „Ritualmork) in Ungarn" schwillt etcetera. Den Stoff des „Verlorenen Kindes" hat die Sanzara im „Neuen Pitaval", Band 9, gefunden. Hinter „Hans Kohlhase und die Minkwitzsche Fehde", einer Wiedergabe der Quellen von Kleists „Michael Kohlhaas". Sie ist in erlauchter Gesellschaft, wie man sieht. Das Material, von dem sie. ausging, hat 1874 ein Untersuchungsrichter zusammengefaßt, der Kreisgerichtsrat Dr. Medem. 18<'2 war in Vorpommern Anna Böckler, das etwa vier jährige Töchterchen eines Domänenpää hters, spurlos verschwunden. Man glaubte, Zigeuner hätten das Kind entführt. Mehr als ein halbes hundert Zigeuner wurden verhaftet, Prämien erregten die Oeffentlichkeit. Dann gri ab man in einer Scheune die Leiche aus. Der Mörder, ein Lustmörder, der noch minderjährige Dienstjunge Fritz Schütt wurde mit 15 Jahren Ge fängnis bestraft. Medem folgt „stremz" den Akten und erklärt als ein Jurist, der sie „mög lichst wortgetreu" verwertet: „Zu unserer eigenen Ueberraschung ist die Ausbeute dieser sozu sagen romantischen Seite der Sache: e ine ganz unerwartet dürftige". Die Sanzara hat den Gerichts po itokollen drei Bekundungen bürgerlicher Zeugen entlehnt. Drei von Zigeunerkindern. Eine eine r Zigeunerin. Was sonst noch? Den Plan der Domäne