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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 11.06.1914
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Band
- 1914-06-11
- Erscheinungsdatum
- 11.06.1914
- Sprache
- Deutsch
- Sammlungen
- Saxonica
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Redaktioneller Teil. pst' 132. 11. Juni 1914. patz. Verboten ist dreierlei: Alkohol, Nikotin und Einkehren in ein Wirtshaus. Mundvorrat wird im Rucksack mitgeführt, und an Quellen, den Durst zu löschen, ist ja kein Mangel. So sparen sie Geld und Venneiden die rauchige Atmosphäre weindunsterfüll ter Lokale, in denen ein krächzendes Grammophon den Gästen Unterhaltung bieten soll. Datz sich junge Touristen zu Fußwanderungen vereinigen, ist sicher nichts Ungewöhnliches, und doch sind diese gesellschaft lichen Ausflüge Merkmale einer neuen Strömung in der Schul jugend; sie sind eine der Äußerungen der im Deutschen Reiche bekannten und nun auch in Wien bemerkbaren »Jugendbewe gung«. Es will mir scheinen, daß das rapide Wachstum der Städte eine Reaktion hervorricf und Rousseausche Ideen — die Rückkehr zur Natur — wieder zur Geltung brachte. Die deut schen »Wandervögel« — so lese ich in einer pädagogischen Zeit schrift — »wandern über Berg und Tal, schlafen im Walde oder auf Heu, und kochen sich selber ein einfaches Mahl. So hoffen sie, wieder einfache, natürliche Menschen zu werden«. Aus die sem Geist heraus und aus dem Wunsch, die Nachteile der städti schen Lebensweise zu vermeiden, sind die »Landerziehungsheime« entstanden, und ein weiterer Schritt führte zur »freien Schulge meinde«, die Wynneken gründete. Eine führende Zeitung der Jugendbewegung, »Der Anfang«, wird, obwohl in Berlin verlegt, zum großen Teile von ihrem Wiener Redakteur geleitet, und dieser hat auch hier mit großer Agitation einen »Sprechsaal« eingerichtet, in dem die Jugend von ihren Nöten sprach, und Anklagen gegen Schule und Haus erhob. Was will die »Jugendbewegung«? Man muß sich durch manchen Wust durchlesen und vieler Meinungen erfragen, um etwa folgendes feststellen zu können: Die Jugend hat den Wunsch, die Erziehung von Schule und Haus, die ihrer Natur nach mehr oder minder zwangsmäßig vor sich gehen mutz, durch freie Selbst erziehung zu ergänzen. Sie will einem Lebensideal von Ge sundheit und Kraft nachstreben. Sie findet, datz die Welt der Erwachsenen rein wirtschaftlich definiert sei, und das könne sie nicht ertragen. Sie will nicht um das goldene Kalb tanzen! Sie kenne noch andere Güter als Geld I Ich habe möglichst wörtlich zitiert und frage mich, ob sich alle, die sich an diesen schönen Worten berauschen, auch dabei etwas Bestimmtes vorstellen. Der geistige Führer der Bewegung, Whnneken, scheint allerdings ganz bestimmte Ansichten und Pläne zu haben, bezeichnet er doch einmal »die Erziehung der Kinder durch die Eltern innerhalb der Familie als primitive Überbleibsel einer alten, kulturlosen Zeit«. Die Wiener Polizei dachte sich ungefähr dasselbe, was in einer ähnlichen Situation ein hoher Vertreter der Berliner Zen surbehörde geäußert haben soll: »Die ganze Richtung patzt uns nicht«, und legte dem Veranstalter des »Sprechsaals« (so hießen die gesellschaftlichen Zusammenkünfte) nahe, ihn aufzulösen, andernfalls die Auflösung verfügt werden würde. Auch wurden gleichzeitig die Abhaltung eines Vortrags Wynnekens im Mo nistenbund und endlich die Gründung des »Archivs für Jugend kultur« verboten. Was wurde mit dem Archiv, für das sich Männer der Wissenschaft, wie Ostwald, Lippmann u. a. inter essierten, beabsichtigt? Es sollte eine Sammlung von Dokumen ten Jugendlicher, von Tagebüchern, Manuskripten, Briefen u. dgl. mehr enthalten. Die Wiener Polizei fand, »daß das Archiv gegen den Bestand der Familie und der Schule gerichtet sei und daher seiner ganzen Tendenz nach staatsgefährlich erscheine«. Die führenden Leute der Jugendbewegung sind entschlossen, ihre Agitation im Herbst mit neuer Kraft wieder aufzunehmen, und sie meinen, daß eine notwendige und gesunde Reform noch niemals auf die Dauer durch polizeiliche Verbote unmöglich ge macht worden, sei. Wien hieß immer eine Theaterstadt, und doch gab es vor vierzig Jahren nur fünf Theater; heute zählt man — abge sehen von den Varietös, Kabaretts und ähnlichen Unternehmun gen — vierzehn ständige Bühnen; am 1. Mai kam die fünfzehnte hinzu. An diesem Tage wurde nämlich in der Skodagasse im 8. Be zirk (Josefstadt) das »Neue Wiener Stadltheater« mit dem Vor- S54 spiel zu Goethes Faust und Strindbergs »Wetterleuchten« er öffnet. Der Name des neuen Theaters knüpft an ein vergangenes an, an das »Wiener Sladttheater«, das am 15. September 1872 unter Heinrich Laube mit »Demetrius« eröffnet wurde. Zwölf Jahre später (1884) wurde es ein Raub der Flammen; die äuße ren Mauern blieben zum Teil stehen, und an der den Klassikern gewidmeten Stätte wurde ein Variete errichtet. Direktor des »Neuen Wiener Stadttheaters« ist Josef Jarno, der bereits bisher zwei Wiener Bühnen leitete. Seit Jahren ist er be müht, den früher hier unbekannt gewesenen Strindberg in Wien heimisch zu machen, und in diesem Sinne begann er auch im neuen Theater mit einem Drama von Strindberg. Daß Strind bergs Werke im Wiener Buchhandel nun weit reger gesucht und gekauft werden, ist zweifellos auf Direktor Jarnos Bemühungen zurückzuführen. Einmal im Jahre entwickeln die Wiener Tagesblätter einen lebhaften Wetteifer, ihren Abnehmern ein möglichst großes Quantum Lesestoff zu bieten und gleichzeitig mit recht viel be rühmten Namen unter den Mitarbeitern zu glänzen: das ist am Ostersonntag. Nachstehend sind die Seitenzahlen einiger Blätter angegeben, die freilich nicht alle in demselben Format erscheinen, so datz der Vergleich nicht ganz zutreffend ist; es sind darunter Zeitungen im Format der Gartenlaube und wieder andere im Format der Leipziger Jllustrirten Zeitung; ferner ist das Verhältnis der Textseiten zu den Jnseratenseiten sehr schwankend; immerhin gibt die Zusammenstellung ein Bild des Umfanges der Nummern: Neues Wiener Tagblatt 256 Seite» Neue Freie Presse 200 Seiten Fremdenblatt 116 Seiten Die Zeit 112 Seiten Neues Wiener Journal 76 Seiten Unter den Milarbeitem, die bei dieser Ausnahmegelegen- heit herangezogen wurden, finden sich hervorragende Diplomaten, derzeitige und gewesene Minister, Parlamentarier, Hochschul professoren der verschiedenen Fakultäten, Schriftsteller, Künstler, Finanzmänner, Vertreter der Industrie und des Handels u. dgl., und in nicht geringem Matze ist dabei das Ausland beteiligt, insbesondere durch französische, englische und italienische Staats männer und Dichter. Einige Blätter brachten Rundfragen über ein gesellschaftliches oder künstlerisches Thema mit der Beant wortung durch ein Heer von mehr oder minder berühmten Leuten. Es ist zu verwundern, datz diese Mode so lange andauert und noch immer die Leser interessiert, aber schon finden sich beherzte Ab geordnete oder Schriftsteller, die auf eine Rundfrage abwehrend antworten: »Ich habe mir darüber keine Meinung gebildet«. Die Mehrzahl ist freilich geschmeichelt, daß man ihre Ansicht ein holt, und freut sich, in der Osternummer zu Worte zu kommen. Ich würde schließlich den Vorwurf, ein Egoist zu sein, ver dienen, wenn ich zwei Lesefrüchte bloß für mich allein gepflückt hätte und sie nicht zur Erheiterung der Leser des Börsenblattes Mitteilen würde. Ein Beispiel moderner Schreibweise ist folgendes Bruch stück der Schilderung einer Person in einem neuen Roman: »Die Intelligenz seines Rückens war außer ordentlich. Vielleicht hatte der Mann seinem Rücken durch die Gewohnheit, die Welt von hinten zu betrachten, die Empfind lichkeit einer Membrane verliehen. Er stand da wie ein Apparat zur präzisierten Aufnahme von Gesprächen. Wahrschein lich war dieser Rücken mit dem Gesichtssinn aus- ge stattet.« Und in einer Zeitschrift für die moderne Frauenbewegung heißt es in einer Novelle: »Nun war die kleine Maria imAltervonvierMona- ten Waise und mutzte zusehen, wie sie sich selbst weiterhals . . .« Es sind also mitunter ganz ernste schriftstellerische Erzeug nisse, die eine wohltuende Heiterkeit verbreiten können. Wien, Mai 1914. Friedrich Schille r.
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