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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 26.02.1929
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- 1929-02-26
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- 26.02.1929
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X: 48, 26, Februar 1829, Redaktioneller Teil, Wieso ist dieser Zustand gekommen? War es doch vor 100 Jahren zur Zeit unserer Klassiker und philosophischen Denker ganz anders um die Menschheit bestellt. Man glaubte nicht nur, sondern handelte nach dem Grundsatz, daß höchstes Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit sei. Die Philosophie von Kant über Fichte, Schelling bis Hegel begründete den Ethos, der nicht nur den Menschen näher an den Menschen heransührte, sondern ihm auch die Gesetze für sein Handeln gab. Warum ist die Situation mit einem Mal so ganz anders geworden? Albert Schweitzer, der ehe malige Theologe, der dann Arzt wurde und an den Kongo zu den Primitiven ging, weil er die Phrasen unserer Zeit satt hatte, hat während des Weltkriegs dort in der Einsamkeit seiner selbstgewählten Verbannung ein schmales Büchlein »Verfall und Wiederaufbau der Kultur- geschrieben, das in wundervoller Klarheit die Erklärung für diesen Vorgang gibt. Meine Aus führungen stehen seinen Ansichten zumal über die Ursachen des Verfalls unserer Kultur sehr nahe. Zur Zeit unserer Klassiker stand das Wort »Humanität» über all ihrer gedanklichen und künstlerischen Produktion, Auch wir lassen heute die Idee der Humanität noch gelten, aber wir haben sie durch das Wort »Sozialismus« ersetzt. Trotz alles Geredes von sozialer Gesinnung sind wir jedoch gründlich inhuman. Es ist so charakteristisch, daß neben dem Wort »So zialismus- gewissermaßen mit ihm verkuppelt und verhei ratet das Wort »Klassenkampf» steht. Genau wie im Krieg, wenn einerseits vom »Heldentum» unserer Soldaten berichtet wurde — ich erinnere an die Kämpfe vor Verdun — auf der anderen Sette das kühle Wort vom »Menschenmate rial- stand, das geopfert werden müsse. Wir sind inhuman ge worden, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Das zeigt die Mißachtung des Privateigentums im Kriege, das noch in dem Zeitalter Napoleons als unberührbar galt. Das zeigt das eine Wort »Giftgaskrieg». Wir möchten gern »Vater Staat» sagen, aus dem Gefühl natürlicher Volksver bundenheit, und weil wir gern an demokratische Ideale glauben möchten. Aber wir fühlen, wir stehen im heutigen Staat in einem rücksichtslosen Kampfe von Jnteressenschicht gegen Jnter- essenschicht. Wir sind zwischen die Räder einer Maschine geraten. Unser Leben selbst ist durch die industrielle Entwicklung mehr oder we niger zur Maschine geworden. Die Rolle, die zu Goethes Zeiten die Individualität spielte, hat heute die Organisation übernom men, und während wir früher an Gott glaubten, glauben wir heute an die kollektive Masse, an ihre richtige Organisation. Wenn die Organisation tadellos funktioniert, dann wird aus ihr der Geist blühen und seine richtige Form gewinnen. Das ist nicht allein der Glaube des Marxismus, sondern all jener, die mate rialistisch denken. Darum meint der durchschnittliche Gegen wartsmensch: Überantworten wir die Sorge für Entwicklung an die Organisation, die Partei, und entschädigen wir uns für unsere Anstrengungen im Beruf oder für die mangelnde Freude an der Arbeit durch äußerliche Zerstreuung, Immer stärker wird auch die wirtschaftliche Unfreiheit durch die Zusammen ballung des Kapitals. Die mittlere Schicht des Bürgertums, die zwischen Kapitalismus und Arbeiter steht, die in dem ererbten Besitz bisher die nötige Muße und Mittel zur Ausbildung ihres inneren Menschen fand, wird immer kleiner. Eine gewisse Kul turfremdheit hat daher die Gemüter ergriffen, die sich darin aus- sprichi, daß alle seelischen Werte problematisch geworden sind, die Werte der Ehe, Familie, der Autorität, Umso höher ist dann die Achtung gestiegen vor dem, was ich Ellbogentüchtigkeit in der Rücksichtslosigkeit zur Erlangung materieller Vorteile nennen möchte. Der Hum anitätsgedanke unserer Klassiker hateinfachnichtvermocht, unserLebenzudurch- dringen, und daher ist es kein Wunder, wenn gerade in der Gegenwart.die Klassikerausgaben zu den Ladenhütern des Sortiments gehören. Und so ist es für das Publikum viel interessanter, die neuesten Schlager zu lesen, als sich mit Ewig keitsgedanken zu beschäftigen. 210 Man könnte nun fragen: Haben unsere Klassiker umsonst gelebt? Aber keiner von Ihnen, und wohl auch keiner der mo dernsten Literaten würde im Grunde seines Herzens diese Frage bejahen. Denn im Grunde sind all die Prediger des modernsten Aktivismus in der Literatur, die mit dem Schlagwort »neue Sachlichkeit» in den Kamps ziehen, im Innersten hilflos, denn sie ahnen selbst, daß auch sie nur eine vorübergehende Zeit erscheinung sind, eine aufsteigende Luftblase aus dem Strom des ewigen Geschehens. Sie behaupten, wir erfassen die Wirklichkeit und befreien Euch von verlogener Sentimentalität. Aber alle Wirklichkeit des Lebens umfaßt nicht nur die zufällige Gegenwart, sondern auch den Strom des vorhergehenden Geschehens und die Immanenz des Kommenden. Wer die Absicht hat, nur einseitig Gegenwart umfassen zu wollen, muß beständig geistig zwischen entgegengesetzten Möglichkeiten jonglieren. Auch die Realisten unserer Zeit, die erklären, alle Romantik sei ein für alle Male abgetan, werden bald, wenn sie ein wirk liches Verhältnis zum Leben haben, zu einem symbolischen Rea lismus kommen. Sind sie aber Schlagwortliteraten, so appel lieren sie jetzt schon mehr oder weniger versteckt an die roman tische Sentimentalität der Masse. Das Ziel des deutschen Ar beiters in der Revolution war »das Plüschsofa», hat einmal Karl Bröger gesagt. Besonders kann man dieses Rührseligkeits bedürfnis auch in der modernen Revue verfolgen, die unsere Sinne, resp. Nerven reizen will und das nur fertig bringt mittels einer verkitschten Romantik. Übrigens lassen Sie mich kurz auf Wert und Unwert der Romantik eingehen, zumal es in einem kürzlich erschienenen Band eines Reallexikons heißt, ich sei der einzige wirkliche Romantiker der neuen Zeit. Die Wurzeln jeder Klassik sind irrationales romantisches Gefühl und rationales realistisches Denken. Die negative Seite romantischen Fuhlens ist das Verlieren in Träume, das Flüchten aus der Wirklichkeit; die positive Seite — uud um die handelt cs sich in der kommenden Entwicklung — ist das Gefühl für die Einheit alles Lebens. Darum spielt darin die Natur eine so große Rolle, gewissermaßen als psychisches menschliches Wesen, darum das Sichversenken in das literarische Vergangenheits-Volkstum, darum die Sehnsucht nach geistiger metaphysischer Weite, die dann in der Klassik feste Form gewinnt. Denn die Reinkultur des alleinseligmachenden Wirk lichkeitssinns endet in eigener geistiger Enge, und wird darum an Ende seiner selbst überdrüssig. Alle Vergnügungssucht führt zu Übersättigung. Alle Rekordbegeisterung erschöpft sich daran, daß der Rekord nicht mehr überbotcn werden kann. Alles Inter esse für Seidenstrumpfbeine, alle Begeisterung für Girldarbie tungen versinkt Plötzlich in dem Gefühl: das ist ja langweilig. Denn immer bricht in der menschlichen Natur eine Sehnsucht nach ihrem besseren Selbst, nach der Erkenntnis des Wesens der Dinge durch. Sonst wären wir eben keine Menschen. Und damit komme ich zur Aufgabe des Buches, zu unserer Aufgabe als Buch händler, zu meiner Forderung, daß wir uns sogar aus eigenem Existcnzinteresse für die positiven Entwicklungswerte unserer Zeit einzusetzen haben. II. Ich möchte zwei Typen Bücher deutlich unterscheiden: die einen dienen rein zur Unterhaltung, die anderen dienen zur Ent wicklung der menschlichen Seele und des Charakters, Lese- odcrLebcnsbücher. Ich möchte nicht von vornherein die reinen Unterhaltungsbücher ablehnen. Der Mensch ist nicht immer fähig zur Konzentration, zumal der moderne. Er will sich entspannen. Aber die Entspannung durch das Lesen hat bei der Masse eine starke Konkurrenz bekommen durch die Entspannung durch das Auge mittels des Kinos und durch das Ohr mittels des Radio. Das sind sehr starke Konkurrenten, die geeignet sind, das Unterhaltungsbuch mehr oder weniger über flüssig zu machen, und die dadurch das Grab des Buchhandels werden könnten. Aber das Buch hat auch noch eine andere Aufgabe, die von Kino und Radio nicht berührt wird, nämlich die Aus einandersetzung des geistige Kräfte ausnehmenden Menschen in unmittelbarem Verkehr mit dem geistig schöpferischen Menschen.
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