Nun waren die bleichen Lippen der alten Frau beinahe geschloffen, die verrunzelten Lider deckten fast ganz ihre blicklosen Augen. Kein Laut drang bcrliber. Einige Minuten betrachtete Dinny die Sterbende und lauschte; dann trat sie ans Bett und beugte sich über sie. War eö vorbei? Wie als Antwort auf diese Frage zuckten die Lider der Alten. Ihre Lippen umspielte ein ganz, ganz leises Lächeln und plötz lich, als sei eine Flamme erloschen, lag sie voll kommen starr. Dinnn hielt den Atem an. Zum erstenmal hatte sie einen Menschen sterben ge- sehn. Sie starrte auf das alte wächserne Gesicht, sah, wie die Spannung allmählich aus den Zü gen wich und die stille Würde des Todes sich darüber breitete. Sie drückte ihr sanft die Augen zu. Der Tod! In seiner stillsten, mildesten Form, doch immerhin — der Tod. Daö alte Heilmittel für alle Schmerzen der Welt; daö allgemeine Menschenlos. In diesem Bett, in dem sie seit mehr als fünfzig Jahren unter der niedrigen, sich senkenden Zimmerdecke Nacht für Nacht ge legen, war eine ehrfurchtgebietende alte Frau ge storben. Vornehme Herkunft, hohe Stellung, Reichtum und Macht waren ihr zwar versagt geblieben. Von Technik und Wissenschaft hatte sie nie etwas gelernt. Sie hatte Kinder geboren, gepflegt, gefüttert und gewaschen, für sie genäht, gekocht und gefegt, hatte selbst wenig gegcffen, nie im Leben eine Reise gemacht, viel Schmerz gelitten, nie den Überfluß gekannt. Aber sie war aufrecht ihren geraden Weg gegangen, ruhigen Blicks, mit freundlichem Wesen. Wenn sie keine cbrfurchtgcbietendc Frau war, wer war eS dann? Dieses Gefühl überwältigte Dinny und sie senkte den Kopf. Wieder räusperte sich der alte Benjy in seiner dunklen Ecke. Sie fuhr aus ihren Gedanken empor und ging ein wenig be bend zu ihm hinüber. „Kommen Sie, Benjy! Sehn Sie doch, wie friedlich sie schläft." Mit der Hand stützte sie seinen Ellbogen und hals ihm aufftchn — er war schon steif in den Knien. Auch ganz aufgerichtet reichte er ihr nur bis an ! I die Schulter, dieses auögedörrte Männlein mit dem vcrschrumpften Gesicht. Sie schritt neben ihm durch das Zimmer. Gemeinsam sahen die beiden auf Bettys Stirn und Wangen nieder, die allmählich die seltsame Schönheit des Todes annahmcn. Das Gesicht des kleinen Alten blähte sich, wurde feuerrot wie das Antlitz eines Kindes, das seine Puppe verloren hat. In ärgerlich quiekendem Ton rief er: „Ah! Sie schläft nicht. Sie iS tot. Sie tut nie mehr wieder den Mund auf. Sehn Sie doch hin! Mutter lebt nicht mehr! Wo iS die Schwester? Sie hält sie nicht so im Stich lasten sollen —" — „Still, Benjy!" — „Sic is ja tot! Was fang ich nur an?" Er wandte sein verhutzeltes Gesicht zu Dinny empor und aus seinen Kleidern stieg ein muffiger Geruch aus von Kummer, Schnupftabak und alten Kar toffeln. „Kann nicht hierbleiben, wenn Mutter- tot iS. Das wär nicht recht." — „Nein; gehn Sie nur hinunter und rauchen Sie Ihre Pfeife und sagen Sie es der Schwester, sobald sie kommt." — „Der werd ich schon was sagen! Schon was sagen! Sie hätt sie nicht im Stich lasten sollen. O Gott! O Gott! O Gott!" Dinny legte ihm die Hand auf die Schulter, führte ihn zur Treppe und blickte ihm noch nach, wie er bekümmert, tastend und unsicher hinab- torkclte. Dann trat sie ans Bett zurück. Das ge glättete Antlitz der Toten wirkte auf sie unheim lich anziehend. Mit jedem Augenblick schien die Überlegenheit des Ausdrucks darin zu wachsen. Fast Triumph sprach aus diesen Zügen, langsame, wohlige Erlösung von Alter und Oualcn. Ihr Charakter offenbarte sich in dieser kurzen Zeit spanne zwischen dem Ende des qualvollen Lebens und dem Zerstörungswerk des Todes. ,Treu wie Gold!' Diese Worte sollte man auf den schlichten Grabstein schreiben, den man ihr setzen würde. Einerlei, wo immer sie jetzt sein mochte, wenn sie irgendwo noch war, sie hatte ihre Pflicht ge tan — Betty! Als die Schwester zurückkam, stand Dinny noch immer dort und starrte auf die Tote nieder.