Franz Werfel: Der verwandelte Lichtstrahl 14 „Ja, das ist mein Proviant, Bagredian, lei der aber nicht mein ganzer ..." Ein Hustcnkrampf schüttelte ihn. Er liest sich neben Gabriel nieder und begann mit einem un- gcbcurcn Taschentuch sich den Schweist abzutrock- ncn. Die Dämmerung zwinkerte auf. Der Esel stand mit gesenktem Kopf und trübsinnigen T- Bcincn auf dem Saumweg. Ein paar Minuten vergingen. Gabriel empfand Unwillen über seine grausame Spottregung von vorhin. Doch Krikors Stimme hatte ihren hohen ÜbcrlegenheitSton wiedcrgefunden: „Gabriel Bagradian! Ihnen sind als pariser Gelehrten ganz andere Hilfsmittel zur Verfügung gestanden als mir, dem Apotheker von Poghonoluk. Und doch werden einige Dinge Ihrem Wissen entgangen sein, die dem meinen be kannt sind. So dürften Sie folgenden Ausspruch des erbabcnen Gregor von Nazianz nicht kennen und auch die Antwort des Heiden Tertullianus nicht, die ihm dieser gab..." Kein Wunder, dass Gabriel den Ausspruch Gregors von Nazianz nicht kannte, wusste doch einzig und allein der Apotheker von ihm. In sei ner unverwirrbarcn Art fing er von oben herab zu erzählen an, obgleich die Verwechslung des Kirchenvaters Tertullian mit einem Heiden glei chen Namens eine arge Entgleisung vorftcllte: „Einmal war der erhabene Gregor von Na zianz bei dem vornehmen Heiden Tertullianus Ul Tische geladen. — Fürchten Sie sich nicht, Gabriel Bagradian, cs ist eine ebenso kurze wie tiefsinnige Geschichte. — Sie sprachen über die gute Ernte und über das herrliche Wcizenbrot, das sie brachen. Ein Sonnenstrahl lag auf dem Tisch. Gregor von Nazianz hob sein Brot in der Hand und sagte zu Tertullian: Gaftfreund, wie müssen wir Gott für sein Geheimnis danken, denn siebe, dieses wohlschmeckende Brot hier ist nichts anderes als dieser gelbe Sonnenstrahl, der sich auf dem Felde in Weizen verwandelt bat. Ter tullianus aber stand auf und nahm ein Werk des Dichters Virgilius aus der Bibliothek und sagte zu Gregor: Gast, wenn wir Gott schon um eines Brotes willen loben, wie erst müssen wir ihn für dieses Buch hier preisen. Denn siehe, dieses Buch ist der verwandelte Lichtstrahl einer weit höheren Sonne als dieser da, deren Strahlen man auf einem Tische sehen kann." Nach einer Weile fragte Gabriel Bagradian mit trauriger Teilnahme: „Und Ihre ganze Bibliothek, Apotheker Kri kor? Dies hier kann ja nur ein kleiner Splitter sein. Haben Sie die Bücher vergraben?" Krikor erhob sich starr wie ein verwundeter Held: „Ich habe sic nicht begraben, Bücher sterben in der Erde. Ich habe sie gelassen, wo sie sind." Gabriel nahm die Laterne auf, die der Apo theker liegengelassen hatte. Es wurde schon Hel ler und Krikor konnte es nicht verbergen, dass über seine gelben gleichmütigen Wangen die Trä nen liefen. Bagradian warf sich den Büchersack des Alten über die Schulter: „Glauben Sie denn, Apotheker Krikor", sagte er, „dass i ch für Mausergewehre, Patroncnmaga- ziue und Schützengräben geboren bin?" Obgleich Krikor immer wieder Einspruch er hob, trug Gabriel Bagradian den mächtigen Sack bis zum Nordsattel. I st V X Iv still I<88 Johanna und Esther Eine Chronik ländlicher Ereignisse 20. Tausend Wir besitzen nicht viele No mane, in denen ein Stück deutscher Land schast mit sei nen Farben und Menschen so echt und warm ge in alt ist. ' M agdeburgische Zeitung)