GerriL Engelkes Vermächtnis Ein bitterer prophetischer Pessimismus, dem ersi ganz von fern wieder eine Hoffnung sich zeigt, erfüllt Gerrit Engelkes letzte uns überlieferte briefliche Äußerungen aus der „Gegend Cambrai", von wo ihn der Svldakentod wenige Tage vor Waffen- siillsiand dem Irdischen für immer entrückt hat. Unter dem 7. Oktober 1918 heißt es da: „Der in den letzten Jahrzehnten in allen Ländern Europas riesenhaft aufgesiandene Jndustrie-Nkaterialismus siürzt in blinder Tierheit gegenseitig aufeinander los und zertrümmert sich felbsi. Mvge dieser Selbstmord vollkommen fein, damit der reinen Vernunft zum Siege verholfen werde und ein neues Leben der Menschheit auf den Ruinen Europas ersiehe." Dann wenige Zeilen tiefer im gleichen Brief über Deutschlands inneres, das heißt seelisches Geschick in Zukunft: „Das Schicksal prüft und schlägt uns und wirft uns in unser eigentliches Zentrum, durch das wir immer .Weltbeherrscher' sein werden — in unsere Geistigkeit zurück! Uber alles triumphiert der Geist !" Man betrachte und bedenke die Situation, in der dies letzte Wort entstand: Der Dichter, seil Kriegs- begiun an der Front, zumeist im Westen, sitzt seit vier Tagen in einem Erdloch eingegraben, „schräg in einem Eisenbahn damm", aber es bleibt chm auch in dieser Zeit die seelische Kraft, das Geistige nicht fortzuwerfen. Eine Woche später ist er den schlichten Tod des Kriegers gestorben. Der Freund, der neben diesem Brief zahlreiche andere, von teilweise nicht geringerer Bedeutung empfing, Jakob Kneip, hat den Nachlaß des Dichters in seinen wichtigsten Teilen veröffentlicht. Die Gestalt des Dichters, deren fragmentarischer Umriß in den Kriegsjahren erst eigentlich sichtbar zu werden begann, wird nun erst auch von der privaten Seite her angeschaul werden können. Denn Tagebuchnotizen, Briefe an Eltern und Freunde, ein Kriegstagebuch und die früher schon einmal für sich ver öffentlichten „Briese der Liebe" bilden einen wesentlichen Teil des Bandes. Neben dem interessierten Publikum wird die Literatnrgeschichtsschreibung dem Herausgeber für die Eröffnung neuer Sichten und neuen wertvollen Stoffes Dank wissen. Unter den Gedichten, die rund sechzig Seiten einnehmen, finden sich Stücke von unbezweifelbarem Gehalt, die zumeist durch die geradezu eruptive, noch aus der Großstadkstraße unmittelbar emporstiegende Allsehnsocht, die Lebensgier, den Rhythmus der Begeisterung gekennzeichnet sind. Daneben stehen stille, mit verhaltener Stimme hingesagte Lyrismeu voller Innigkeit, wie etwa das ganz frühe, „Cello" betitelte Gedicht. Die Briefe an Eltern und Freunde und die ganz zärtlichen an seine Braut erwecke» das Bild des gefallenen Dichters in aller liebenswerten Menschlichkeit, die ihm eigen gewesen sein muß. Vieles in ihnen mehrt die Kenntnis seiner Lebcnsumstände, seines Verhältnisses zu den Eltern und zu seinen literarischen und beruflichen Freunden (Engelke ist Malergehilfe gewesen, ehe er als Dichter hervorkrat). Vieles rundet das Bild, das uns von seinem Denken und von seiner Anschauung dieser Welt vorschwebke. Das Wertvollste aber gibt der Briefteil des Nachlaßbandes dort, wo er uns den liebenden, sinnenden und denkerisch wachen Menschen inmitten des kriegerischen Geschehens erblicken läßt, wie er die sowohl heilige als bittere Notwendigkeit dieses Ge schehens sieht und bejaht, aber sich von ihrer Wucht und Vordringlichkeit nicht der „reinen Vernunft" berauben läßt, sondern das geistige Erbteil seines Lebens in vorderster Kogellinie sich noch unverloren weiß, bis der Tod ihn zum Schweigen zwingt — ein Beispiel von reinster vaterländischer Männlichkeit. Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin p'srwLÄ/ntt. -see» no» /--HoK Lrerp. ä«/e» LA «A r» LrLnH. L./o ? ^ v I. I, I 8 1 I. L I ? 2 I O 144 Börsenblatt f. b. Deutschen Buchhandel. 105. Jahrgang. Nr. 53 Donnerstag, den 3. März 1038 1053