Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 30.06.1923
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Bibliotheksgesetzgebung geschenkt wurde. Das Dekret vom 5. November 1920 erklärte die Zusammenfassung des gesamten Büchermaterials der Republik, die Schaffung eines sogenannten Bibliotheksnetzes für eine Staatsaufgabe. Diese an sich schon sehr schwierige Aufgabe stößt bei jedem Schritt auf Hindernisse, denn die Mittel, die für ihre Lösung notwendig sind, können nicht sehr groß sein. Den betreffenden Gesetzen gingen lebhafte und interessante Kon gresse über das Bibliothekswesen voraus. Der erste -dieser Kongresse, die vom »Volkskommissariat für Bildungswescn« im Juli 1918 ein- berufene sogenannte »Staatskonferenz über Bibliothekswesen«, stellte Mißerfolge in der lokalen Bibliotheksarbeit fest und wandte seine Auf merksamkeit auf den Zustand der Staatsbibliotheken der Haupt zentren. Wenn auch im gesetzgeberischen Sinne keine größeren Resultate erzielt werden konnten, so verdanken die Bibliotheken dennoch dieser Konferenz die Erhöhung ihrer Kredite und die Errichtung von Organi- sations- und Administrativzcntren »mter direkter Beteiligung der Ver treter der Bibliotheken. Das auf der ersten Konferenz aufgerollte Problem eines allrussischen Bücherrepertoriums konnte nicht gelöst werden, aber die konkreten Resultate der Verordnung vom 23. Juli 1918 betreffs des »Austausches von Büchern zwischen den Staats- institutionen« und der am selben Tage herausgegebenen Verordnung über »das Auskunftsbureau« — das die Pctrograder öffentliche Biblio thek und die Numjanzewsche Bibliothek in enge Beziehungen brachte — machten sich immer mehr fühlbar und bedeuteten eine Erleichterung für -die Arbeit der wissenschaftlichen Leser. Bis zum Jahre 1914 hatte das Ministerium für Bildungswesen dem Rumjanzewschen Museum für Einkauf von Bildern, ethnographischen Sammlungen, ausländischen Ausgaben und Büchereinbänden nicht mehr als' 3000 Rubel zur Ver fügung gestellt. Jetzt aber wurde durch die Verordnung des Moskauer Rates im Jahre 1918 dem Museum ohne jede vorausgegangenc Kre-dit- erweiterung eine glänzend eingerichtete Buchbinderwerkstätte zur Ver fügung gestellt, es wurde ihm ferner gestattet, das Personal zu er höhen und seine technischen Mittel auf breitere Grundlage zu stellen. Eine neue Bibliothekskoufcreuz im Januar und Februar 1919 setzte sich vor allem auseinander über -das Dekret des Rates der Volkskom missare über die europäische Ausgestaltung der Bibliothekstechnik, zu gleich besprach sie die in den einzelnen Bibliotheken zu treffenden tat sächlichen Maßnahmen. Der Verfasser dieses Artikels, ein Urheber und Organisator -dieser Konferenz, erinnert sich lebhaft daran, wie unmöglichen Hoffnungen und weitschweifigen deklarativen Erklärungen zum Trotz die heute bereits durchgefiihrten und bewährten Pläne der langersehnten Reform der wichtigsten akademischen Bibliotheken angenommen wurden. Der Verständigung zwischen Petrograd und Moskau folgten gemein same Aktionen. Dem im Jahre 1918 mit Moskauer und Petrograder Unterabteilungen gegründeten »Komitee für Staatsbibliotheken« gelang es, die Vcrlagstätigkeit zu ordnen und der Bibliothekskonserenz ein solides Material über die Staatsbibliotheken zu unterbreiten. Das damals der »Abteilung für freie Bildung« zngeteilte Bibliothekswesen -der Provinz befand sich im Zustande völliger Stagnation. Alle Berichte über den Ausbau der Bibliotheken in der Provinz wiesen darauf hin, daß dieser Ausbau ganz unzweckmäßig vor sich ging. Obwohl der Zentralapparat des Kommissariats für Bildungswesen eine entsprechende Anzahl von Emissären entsandte, waren diese nicht imstande, in der Provinz irgendeine fruchtbare Tätigkeit zu entfalten, da sie mit der beschränkten Aufgabe betraut waren, das Schicksal dieser oder jener Herrenbibliothek zu entscheiden. Bei der ungeheuren Ausdehnung des Landes machte sich der Mangel an ansgebildeten Fachleuten im Bibliothekswesen stark fühlbar. Eine Bibliothekarschule gab es in Ruß land noch nicht, die Bibliothekarknrse und Seminare der Abteilung für- freie Bildung konnten nur eine sehr geringe Anzahl von Hörern anf- nchmen. Ter Hauptmangel bei der Einrichtung neuer und bei dem Ausbau alter Bibliotheken bestand aber in -dem Mangel an Büchern, in der Krise der Typographie und des Papiers. Die Tätigkeit der Bibliothekssektion deS Moskauer Gonvernement- sowjets — klar und eingehend geschildert von L. V. Chawkina-Ham- burger — gibt ein erfreulicheres Bild. Die territorialen Vorteile des Moskauer Rayons erklären aber diese Erscheinung. Vor allem muß erwähnt werden, daß die Herstellung einer organi satorischen Verbindung und einer zweckmäßigen Koordination der Tätig keit der russischen Öffentlichen Bibliothek in Petrograd, der Rumjanzewschen Bibliothek in Moskau, der Bibliothek der wissenschaft lichen Akademie in Petersburg und der Bibliotheken der Hochschulen die völlige Selbständigkeit und Aufhebung der organisatorischen Ab hängigkeit der Hochschnlbibliothekcn von den Universitätsleitungen 892 forderten, da die Entwicklung und Bedeutung dieser Bibliotheken über ihre Aufgabe einer Bedienung der Hochschulen hinanslief. Tic wunschweisc ausgesprochenen Thesen über die Reform der Hoch schulbibliotheken wurden im September 1919 als Grundlage der Tätig keit des Kongresses angenommen. Der Kongreß beschloß die Emanzi pation der akademischen Bibliotheken; die Berichte, die die allgemeine Lage der Bibliotheken im Lande schilderten, zeichneten dem Kongreß seine Tätigkeit in zwei Richtungen vor: 1. Die Reform-der staatlichen und akademischen Bibliotheken, 2. die Ausarbeitung des Planes eines Büchernetzes. Die zweite Frage erforderte gemäß -der vom Rate der Volks kommissariate gestellten Aufgabe ein im voraus klar und deutlich aus- gearbcitetes Exposch das sich auf die Organisation des amerikanischen Büchernetzes stützte. Im Interesse dieser Organisation wurde eine systematische Zusammenfassung des gesamten Büchervermögcns des Landes, die Organisation der gegenseitigen Unterstützung -der öffent lichen Bibliotheken und die Ausnutzung und Ergänzung jener Ketten glieder, die den Verkehr der Stadtbibliotheken mit den kleinsten Hans- nnd Vercinsbibliotheken ermöglichen, beabsichtigt. Auf Grnn-d der Berichte entstand ein sehr interessanter Entwurf eines Büchernetzes. Dieser Entwurf wurde im zweiten Buche der Sammlung »Biblio- theken-Umschau« veröffentlicht (herausgegcben in Petrograd 1920); er beschränkte sich weislich in seinen Forderungen und verlangte den vorläufigen Ausschluß der Staatsbibliotheken aus dem Plan des Bücher netzes. Die Aufmerksamkeit der Konferenz wandte sich in der zweiten Hälfte ihrer Tagung der Besprechung der mit den Staatsbibliotheken im Zusammenhang stehenden Fragen zu: Ausarbeitung ihrer Statuten wie ausführlicher Regeln ihrer Be nutzung, endlich die Feststellung des normalen Personalbestandes. Diese Beschlüsse wurden unmittelbar nach Abschluß der Kommissions- tätigkeit dieses Kongresses durch den Volkskommissar für Bildungs wesen bestätigt. Bevor ich zur Schilderung der größten Leistung der Bibliotheks konferenz übergehe, halte ich einige Bemerkungen über den Unterschied der russischen Staatsbibliotheken von den Bibliotheken der »Neuen Welt« für notwendig. Daun werden wir alle jene Fragen klar über sehen, die den russischen Bibliothekar mit einer für den Amerikaner und für den Westeuropäer unbegreiflichen Hartnäckigkeit beschäftigen. Es handelt sich hier um die Revision der größten russischen Bibliotheken nach dem Ge sich-tsp unkte des Bibliothekssystems. Tenn wenn sich in den Arbeitsmethoden der Universitäten und Akademien die Arbeit von Jahrhunderten ausprügt, so schufen die Bibliotheken und Museen trotz ihres verhältnismäßig langen Bestehens in West- und Osteuropa nur das erste Kapitel der jungen Wissenschaft der Bibliotheks- und Mn- seeukuii'de, nämlich ihre Entstehungsgeschichte. Von Bibliothekssystemcn im Sinne einer gleichartigen Einrichtung, gleichartigen Technik, von gleichartigen Arbeitsmethoden, gleichartigen Bibliothcksmechanismen kann mau mit vollem Recht nur in der Neuen Welt sprechen, wo die Prinzipien der Bibliothekseinrichtnngen im allgemeinen Ausbauplan des Landes enthalten sind. In Rußland gab eS viele fanatische Dezimalisten, die sich nicht be gnügen wollten, die Ketterschen oder Osnabrückschen Tabellen in einigen neuen Bibliotheken einzuführc», sondern sogar versuchten, das Brüsseler dezimale System zuerst mit Hilfe der Kongresse, und als dies nicht gelang, auf autoritativem Wege in allen Bibliotheken der NS. F.S. N. einzuführeu. Da aber diese Dezimalisten sich nicht einig waren, hatten sie keinen Erfolg. Das alte Europa, das die größten Weltbibliotheken besitzt und einen komplizierten Organismus bibliothekarischer Traditionen schuf, brachte in ihnen auch seine Fehler mit. Aber eben die europäische Tradition rief jene Wünsche hervor, die in den idealen amerikanischen Bibliotheks systemen verwirklicht waren. Das ständige Wachstum der europäischen Bibliotheken verzehnfacht die Schwierigkeiten und schiebt die Möglich keit der Umgestaltung immer mehr hinaus, während -die amerikanischen Bibliotheken, die ihre Tätigkeit schon auf Grund der negativen Er fahrungen Europas begannen, die Fehler und die durch das Alter ge heiligten Jrrtümer der Klöster- und Königs-, -der Universitäts- und Herrenbibliotheken und der durch ihre Vereinigung geschaffenen großen Bibliotheken Europas vermieden, die, obwohl sie das Fundament der heutigen gewaltigen Knltnrlaboratorien bildeten, in verknöcherten, un beweglichen Konstruktionen ansarteten. Die Amerikaner setzten bereits mit jenem Prinzip ein, das in Europa eben erst anftanchte. Sie haben sehr viel Zeit erspart: sie brauchten nicht erst zu reformieren, sie standen nicht vor der Sisyphnsanfgabe, viele Millionen Bücher nach einem neuen System in alten Räumlichkeiten nmzuordnen. Ihre Arbeit war
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