Xö 100/101, 30. April 1925. Fertige Bücher. «örlkUblalt f. ». Dt,ch«. »uchhankkl. 71KS Sehr geehrte, gnädige Frau! (Inzwischen habe ich von Meißner Ihr Buch »Heinrich Hildebrandt und seine Weg. genossen' erhalten und mit Spannung gelesen. 2ch darf Ihnen wohl meinen herzlichen und aufrichtigen Glückwunsch zu diesem Kind Ihrer Muse aussprechen. Bei der Lektüre des Buches empfing mich heimische und anheimelnde Atmosphäre, wie ich sie sonst nur bei der Lektüre unseres lieben Wilhelm Raabe empfinde. Und wenn ich Ihr Buch, seine Innigkeit und seine Tiefe mit dem vergleiche, was uns markt schreierische Reklame so manchen Verlags an Geistesprodukten unserer neuen Dichter verführt herüberkommen zu lassen, so regt sich meine Hoffnung wieder, daß wir viel- leicht doch kein sterbendes Volk sind, denn aus dem Schoße sterbender Völker kann keine Dichterin geboren werden, die so viel dem Urquell unserer Leiden, Verblttertheit und Niedergedrücktheit, dem Egoismus Fehde erklärt und diese durchführt. Beim Lesen des Heinrich Hildebrandt fühlt man sich auch in weiter Ferne wieder zu Hause und zwar im Frieden derjenigen Häuslichkeit, die wir Alteren in unserer Kindheit noch ge- kannt haben, einer Häuslichkeit, zu welcher alte Dienstboten, die mit der Familie ver wachsen waren, gehörten, der Dust von Bratäpfeln im eisernen Stubenofen, das Surren der Petroleumlampe und eine längst vergessene Ahnung von Winter- und Wekhnachtsfreuden. Auch Gottfried Keller würde mit Raabe seine Freude an dem Buch haben, und herzlich über das Werk dürfte sich auch unser Herzog gefreut haben, dessen Burg kinder sicherlich treue Freundschaft mit Ihrem Heinrich Hkldebrandt geschlossen hätten. Mir aber, einem Manne, der an seinem Volke irr geworden ist, daß er es aufgegeben hat, noch weiter die Feder zu führen, um deutsche Phantasiegebilde hervor- zuzaubern, und der es heute vorzieht, seinen Gedanken in der spanischen, der fremden Sprache Ausdruck zu verleihen, dem hat Ihr Heinrich Hkldebrandt auf die Schulter geklopft und hat gesagt: »Wenn unser Volk sich am unverständlichsten gebärdet, wenn es ganz im Sumpf der Niedrigkeit und Gemeinheit versunken scheint, dann ist es stets in der Geschichte der Um- und Einkehr am nächsten gewesen'. Kann ich Ihnen eine bessere Kritik geben, als wenn ich Ihnen sage, daß mir das Buch nahegegangen ist wie selten eines von den neuen? Sie können dem deutschen Volke sicherlich noch manches Werk schenken, und wenn unter der Maße der Nmen auch vielen, vielleicht den meisten das Verständnis für Ihre Innigkeit abhanden gekommen ist, diejenigen, welche noch nicht hoffnungslos verdorben find, wird es zum Nach denken anregen, und aus diesen Nachdenklichen wird sich der Kern bilden, um welchen sich dann das »Neue Deutschland", d. h. das erneuerte Deutschland kristallisieren wird. Sie leben mitten im deutschen Volk und erleben neben dem Niedrigen und Bitteren auch das Gute, Schöne und Wahre, das noch übrtggeblieben ist. So können Sie hoffnungsvoll bleiben. Wir hier draußen sehen und hören nur das Unwürdige, das Häßliche und Gemeine. Das Edle und Gute dringt nicht mehr über die Grenzen des Vaterlandes hinaus. Es ist scheu und schüchtern geworden und zieht sich von unserer heutigen Welt zurück. Seien Sie recht herzlkchst bedankt für den Genuß, den Sie uns geboten haben. Wilhelm Meister-Verlag - G. m. b. H. « Berlin SW 48, Frledrlchstraße 228. 956'