Deutsche Klassik so sagt Nadler ist die Hochblüte der Kultur der Franken, Ala mannen und Thüringer, neu geschaffen aus weströmischem Geist durch germanisches Volkstum; Romantik ist die Krönung des ostdeutschen Siedelwerks, die Ver deutschung der Seele nach der Ver deutschung der Erde und des Blutes, sie ist der Schlußstein der Entwicklung, in der sich das Volksgut des Ostraums zu abendländischer Weltrichtung formte. Um diese zwei Säulen sammeln sich alle Einzelheiten der deutschen Geistes geschichte. Geboren also aus dem Wechsel spiel zwischen germanischem Blut und romanischer Kultur hier, zwischen byzan tinischer Art und ostdeutschem Volkstum dort, wird die deutsche Literatur nicht vom einzelnen fortgeführt, die Bewegung liegt tiefer: Dichtwerk und Dichter sind eingebettet in den Strom des Stammes geschehens. Auf diesem Fundament schildert Nadler die fortwirkende Ver gangenheit, malt er die Lebenslust, ent wickelt er die Geschichte unseres Schrift tums aus Stamm und Landschaft, aus dem Schicksal des Blutes und der geistigen Erbmasse. Breit und figuren reich entrollt sich die höfische Dichtung, plastisch und einleuchtend Scholastik und Mystik, Humanismus und Barock, die Literatur Ostfalens, der Mark Branden burg, der niedersächsischen Stämme, der Preußen. Pietismus, Naturalismus und Neuromantik werden uns ebenso ver traut wie die vom Staatsgedanken be herrschte Literatur des ry. und 20. Jahr hunderts. Man schlage auf: Georg Förster und die Mainzer - Lessing und das Ham burger Theater Simon Dach und sein Kreis — Runge — Grimmels hausen Herder und Hamann Scheffler — an jedem Namen, jeder Ge stalt hängen Landschaft und Luft! Die geistige Geschichte eines Stadtwesens wird mit der gleichen Liebe geschildert wie die Geschichte des modernen Jour nalismus oder die lebendigen Figuren des historischen Faust, Klaus Groths oder Julius Langbehns, des Rembrandt- Deutschen. Neben den Unsterblichen stehen in Nadlers Werk die Vergessenen, die fast Namenlosen. Essayisten, Kritiker, Geschichtsschreiber, ja auch Maler, Bau künstler, Musiker werden in den großen Zusammenhang gerückt. Mit souveräner Kenntnis spricht es über die Verwurze lung literarischer Schulen, Zweck und Inhalt der Gründung von Zeitschriften, den Charakter von Tageszeitungen, und außerdem entsteht gleichzeitig eine zu sammenhängende Geschichte des deutschen Theaters. Welche Fülle von Material, Sachkennt nis, von beherrschender Urteilskraft! Belesenheit erwartet man vom Philo logen, was aber Nadler uns in seinem Werk bietet, grenzt ans Unfaßliche. Und damit noch nicht genug: zur Inhalts angabe, zum biographischen Aufriß gibt er begründetes, treffsicher formuliertes Urteil. Mit dem Mut zur eigenen Mei nung, unbeirrt und gradlinig, oft von der traditionellen Lesart abweichend, kennzeichnet er den Dichter und sein Werk, mitunter nur in ein paar Sätzen von unvergeßlicher sprachlicher Prägung. So über Geibel: „er dämpfte und ver schleierte, was ohnehin nicht brannte oder Scham erregte", über Karl May: „das, was nach Abzug von Wagner und Nietzsche als Rest vom Deutschen jener Zeit übrigbleibt", über den sonst wohlwol lend gewerteten Wildenbruch: „der Busen wogt sogar in den Szenenanweisungen". Diese umwälzende und tiefdurchdachte Schau der deutschen Literatur weckt, rüttelt auf, zwingt zum Neu-Sehen, zum Neu-Erleben. Eine Quelle der Be lehrung und des ästhetischen Genusses, ist sie aus der geschichtlichen Anschauung unserer Zeit heraus für unsere Zeit ge schrieben, sie sucht die Einheit in der Vielheit und beweist die Vielheit in der Einheit. Man weiß nicht, was man an diesem monumentalen Werk mehr be wundern soll: die Kühnheit dieser bahn brechenden wissenschaftlichen Forscher arbeit oder die Eindringlichkeit, die Dynamik des Stils, seine Lesbarkeit, die zusammen mit der Unmenge von Bild beilagen und Tafeln das Werk Altersgrenzen und Bildungsstufen über brückend — jedem verständlich machen.