Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 106 (R. 55) Leipzig, Dienstag den 9. Mai 1939 1V6. Jahrgang Kantate lyzy Wenn man einen Augenblick bei der Tatsache verweilt, daß die diesjährige Hauptversammlung des Börsenvereins die 114. Veranstaltung dieser Art war, so kommt einem dabei zum Bewußtsein, daß der Börsenverein der Deutschen Buch händler zu Leipzig eine ehrwürdige Tradition hat, die seine Ent wicklung seit der nationalsozialistischen Machtergreifung in be sonderem Lichte zeigt. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, Überlieferung in ein neues Licht gestellt oder vielleicht ganz auf gegeben werden mußte. Es war z. B. schon vor 1933 vielen jun gen Menschen, die die Zeichen der Zeit verstanden hatten, klar, daß etwa das Verbindungsstudententum eine Lebensform dar stellte, die dem Aufbruch der deutschen Jugend im Zeichen des Nationalsozialismus nicht mehr gemäß und nicht mehr ange messen war. Trotzdem haben sich viele Volksgenossen, die an 2- — — , ^ - Blick in bas Neue Theater während der Kundgebung des Deutschen Buchhandels Auf».- Stcnzel stber geschichtliche Entwicklungen und Überlieferungen neu zu denken, neue Wertmaßstäbe und neue Begriffe zu formulieren. Das Wort Tradition hatte für viele von uns, nicht nur auf den kulturellen Gebieten des Lebens, sondern auch anderweitig, einen Charakter, einen Nimbus bekommen, die es fast als einen Frevel erscheinen ließen, daran zu rühren, oder die Möglichkeit :iner Änderung überlieferter Entwicklungen zu erwägen. . In einer Zeit, in der so viel Neues werden will wie in der feit, in der wir heute leben, müssen selbstverständlich auch Dinge iner Prüfung auf ihren Lebenswert unterzogen werden, die bis her außerhalb des Bereiches einer derartigen erneuten Nachprü fung und Besinnung standen, weil sie eben durch die Tradition gleichsam geheiligt, unantastbar geworden waren. Der National sozialismus hat uns gelehrt, auch in dieser Hinsicht umzudenken, wobei keineswegs verschwiegen werden soll, daß für viele Volks genossen dieses Umdenken besonders dort schwierig und schmerz lich war, wo eine Tradition, eine liebgewordene geschichtliche dieser Lebensform beteiligt waren, später nur schwer dazu über winden können, die Notwendigkeit der Schaffung neuer Formen nicht nur grundsätzlich zu bejahen, sondern auch bei der Bildung dieser neuen Formen tätig mitzuwirken. Inzwischen ist uns hier schon vieles selbstverständlich geworden, was wir vor einem Jahre noch nicht für möglich gehalten hätten. Ähnlich liegt es auf anderen Gebieten, am stärksten immer dort, wo ein Berufsstand eng mit der Bildung einer Tradition seines Lebens und Wirkens verknüpft ist, zumal ein Berufsstand wie der buchhändlerische, der einmal seiner ganzen Arbeit nach konservativen Charakter trägt, zum anderen aber, im Hinblick aus die Wirkungen, die von seiner Arbeit ausgehen, seiner Zeit aufgeschlossen gegenüberstehen muß, wenn er den jeweils an ihn gestellten neuen Aufgaben gerecht werden will. Der Buchhandel als kultureller Berufsstand wurde nach der Machtergreifung natürlich in ganz ungewöhnlichem Maße von der neuen, durch die nationalsozialistische Weltanschauung be- Nr. 10S Dienstag, icn g. Mai 1S3S 373