3458 X? 77/78, 1. April 1926. Fertig« und Künftig erscheinende Bücher. c//e rir-e/'/e ^o/is^s/rc/si^oc/re/ o UV Gtaminesbewußtsein »ft wichtiger W als Raffentheorien! M Was will der deutsche GagenschatzV 7^ er deutsche Sagenschatz meines Verlages ist ein Eckstein meiner verlagsbeftrebungen, an alten Volks-Mythos und Glaubensvorgänge im Leben des bäurischen Menschen jenes Denken anzu knüpfen, das in der Zukunft wieder aus der Verbundenheit mit Landschaft u. geschichtlicher Tradition berauswachsen wird u. das das Instinktlebcn des deutschen Menschen zum Untergrund hat. Manche Leute, die freilich nur in der Stadt ausgewachsen sind, glauben, die moderne Äultur wälze sich wie eine große Walze über Deutschland und nivelliere alle Stammesunterschicde sowie auch endgültig die Gegensätze von Land und Stadt. Ls sei viel wichtiger, sich mit den heutigen soziologischen, politischen oder wirtschaftlichen Problemen zu befassen. Die alten Historien und Sagen müßten zum alten Liscn geworfen werden, denn wir Heutigen leben in anderen Vorstellungen, und die allen Geschichten haben uns nichts mehr zu sagen. E'ch aber meine, es handelt sich in der Sagenwelt weniger um Ammenmärchen, als um -^Menschenkünde,um die Äenntnis und das Miterleben ursprünglicher Instinkte und ursprüng lichen volksdcnkcns. wie gut könnte unsere gesamte Romanliteratur diese Äenntnis brauchen, um lebensnah und lcbensfordcrnd zu werden und so über das ewige Vcrliebtsein von Hans und Grete hinauszukommen. Schrieb doch kürzlich eine angesehene Monatsschrift: „Die Rücksicht auf die Weiber droht unsere ganze Literatur zu verhunzen." Aber ist nicht auch das wissen um vergangenes Denken die beste Möglichkeit, Distanz zur Gegenwart zu gewinnend Und lebt nicht ver gangenes Denken und Fühlen gleichsam unterirdisch in uns u. beeinflußt unbewußt unser Handelns ^/Eassenkunde" ist ein modernes Schlagwort. Aber wie wäre cs, wenn wir uns erst mal an das ^^Nächste hielten, an „Stammeskundc"^ wir gewinnen sie nicht, wenn wir uns an die übliche Heimatlitcratur in Dialektdichtung halten, wir gewinnen sie nur durch Distanzierung, indem wir bäuerliches Denken und Empfinden des Stammes, zu dem wir durch Geburt gehören, mit anderen deutschen Stämmen vergleichen. Das war bisher nur Spezialisten möglich, denn die Sagcnsamm- lungen haben seit den Brüdern Grimm durchgängig sich an das Sammelprinzip des Schmctter- lingssammlers gehalten. Ls wurde Material gesammelt, und dies wurde wie die Schmetterlinge einzeln auf die Stecknadel gesteckt und numeriert. Bestenfalls wurden verwandte Motive zu sammen gruppiert, wenn man aber ein Dutzend derartig präparierter Sagen gelesen hat, hat der gewöhnliche Mensch genug an diesem Äuriositätcnkabinctt, in dem das Leben fehlt. Er schlägt das Buch gclangweilt zu, denn kein vernünftiger Mensch kaut Häcksel. Es gilt, ein neues, ein organisches Prinzip anzuwenden, sodaß dem Leser das Gesicht seines Stammes im geschichtlichen werden durch Mythos und Legende ohne Bevormundung durch eigenes Schauen entgegen tritt, daß er die uralten heidnischen Glaubensformen in ihren Ueber- resten noch als Bestandteil seines heutigen Blutdenkens empfindet, daß es ihm geht, wie Laust beim Gsterspaziergang: Das Bücher wissen fällt von ihm ab und erlebt das Volk als Teil von sich selbst. Diesen Vorgang formuliert Goethe in „Dichtung und Wahrheit" in folgenden Worten: „Der Gebildete muß Volk werden, damit aus dieser Vermahlung ein neuer, höher gebildeter Stamm emporwachse. Das fordert die Gegenwart."