Frage von höchster kultur- und volkspolitischcr Bedeutung. Aber eben hier tauchen schwierige Probleme in reicher Fülle auf. Es sind Probleme buchkritischer Natur, Probleme der Organisation der Vermittlung, vor allem aber auch Probleme des Lesers selbst. Der substantielle Leser ist ja keineswegs der Leser, der Substanz als Substanz schlechthin sucht, sondern er geht - bewußt oder unbewußt - von einem bestimmten Lebenswillen, Lebensdrang, Lebenskcim aus. Wird dieser Keim nicht getroffen, dann versagt sich dieser Leser unseren Be mühungen, d. h. er wendet sich doch wieder zum Surrogat und marschiert dann unter Umständen - in seiner tatsächlichen Lektüre, nicht in seiner inneren Tendenz - in einer Front mit Die Leidenschaft zum Buch Bon „Haben Sie'S gut! Sie können immer schöne Bücher lesen!", so hören wir, denen daS Buch zum Beruf geworden ist, immer wieder. Das ist dieselbe oberflächliche Ansicht, die auch den Bauern beneidet, der den ganzen Tag hinter dem Pflug in der Sonne spazierengehen kann, oder den Soldaten, der unter den Klängen feuriger Märsche durch die Straßen marschiert, be wundert von jung und alt. Beneidet einer den Bankmenschen, daß ihm soviel Geld durch die Finger rollt, oder den Bäcker, der lauter leckeren Kuchen backt, oder den Gärtner, der Rosen schneidet? Jeder Beruf hat seine schönen und seine weniger schönen Stunden. Erst die Leistungen der vielen eintönigen Stunden bringen das Hochgefühl der wenigen Stunden her vor, die den Neidlingen und Bequemen allein sichtbar werden. So ist es auch mit dem berufsmäßigen Bücherlesen. Wer das Buch nur als Ausspannung von seiner eigenen Berufsarbeit kennt, wird die Leidenschaft der berufsmäßigen Bücherleser nicht beurteilen können. Wer aber selbst das Buch als not wendigen Begleiter seines Lebens erkannt hat, wird wissen, daß das Bücherlesen, also die Erkenntnis, die Beurteilung und die Vermittlung des Buches so gut eine Aufgabe ist wie jede andere im geistigen Bereich, eine Aufgabe, die nur erfüllt werden kann, wenn sic mit Leidenschaft und mit Demut erfüllt wird. Mit Leidenschaft, weil cs nicht darauf ankommt, nur das zu kennen, was einem persönlich liegt, waS einem Freude macht. dem reinen entleerten UnterhaltungSlcser. Jener Keim ist aber ein anderer bei dem Leser der Stufe zwei, er ist ein anderer bei dem der Stufe drei, er ist wieder ein anderer bei dem Leser der Stufe vier. Und jede Stufe wird durchkreuzt von den bio logischen und sozialen Bedingungen, unter denen Leser und Lesen stehen. So ergibt sich eine Fülle charakteristischer Typen, von denen - im Feld des Echten und des völkisch Gültigen - jeder zu dem Seinen kommen soll. Und erst wenn wir dieses ganze System von Ansatzpunkten und Bedingungen durch schauen, werden wir das berechtigte Bedürfnis nach substan tiell gesättigter Unterhaltung planmäßig mit dem cchtbürtigen Buche befriedigen können. Wilhelm Westecker sondern alle Leistungen auf bestimmten Gebieten der Literatur. Nur das ermöglicht ein sachliches, gerechtes Urteil, denn ein gerechtes Urteil ist ohne Kenntnis der Sache nicht möglich. Mit Demut, weil der berufsmäßige Beurteiler sich bewußt bleiben muß, daß er nur eine vermittelnde, keine schöpferische Lei stung vollbringt. Seine Fähigkeiten müssen in der Erfassung und Darstellung des Wesentlichen und in der Erkenntnis und Abgrenzung des Unwesentlichen und Schädlichen und Modi schen liegen. Das Modische zu erkennen ist besonders schwer, denn es weiß sich als Wesentliches zu geben, ist aber ganz unwesentlich und entspricht lediglich den launischen Schwächen eines bestimmten Zeitabschnitts. Diese Aufgabe ist den Ein satz der ganzen Leidenschaft entsprechend veranlagter Men schen wert. Ohne diese Leidenschaft geschieht in keinem Be rufe etwas Ordentliches, nicht einmal beim berufsmäßigen Bücherleser. Diese Leidenschaft tritt bei Büchcrlcsern in zwei Formen auf. Sic ist einmal die Leidenschaft für die schöne Form, den geist vollen, wohl auch den pikanten Gehalt. Das Geistvolle ist übrigens nur eine abstrakte Form deö Pikanten. Diese Leser, ob sie nun berufsmäßige Leser sind oder nicht, haben ein rein geschmäcklerisches oder individualistisches Verhältnis zum Buch. Sie lesen auch mit Leidenschaft, aber ihr Lesen bleibt unfruchtbar, weil sie weder die schicksalhafte Notwendigkeit 4 25