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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 23.06.1936
- Strukturtyp
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- 1936-06-23
- Erscheinungsdatum
- 23.06.1936
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- Deutsch
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Nummer 143, 23. Juni 1988 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Emanzipationstendenz des Wortes. Soweit sich eine Beeinträch tigung der Erlebnisunmittelbarkeit aus dem Wesen der maschinel len Herstellung sowie der Zahl der Druckschriften ergibt, muß und kann man sich im Gedanken an den unendlichen Segen, der von der weckenden Kraft des Buches ausgeht, abfinden. Aber leiden schaftlicher Kampf sei dem Buch angesagt, das darauf ausgeht, den Menschen mit einschmeichelnden und verheißungsvollen Gesten aus der Realität herauszulocken. Es fehlt nicht an Stimmen in der Öffentlichkeit, die von der Literatur und dem Film größere Wirklichkeitsnahe verlangen, es gibt einen typischen Kritiker und einen ebenso typischen Für sprecher der Realitätsferne im Buche — beide sehen das Problem nicht in seinem ganzen Umfange. Denn man täusche sich darüber nicht- die größte Frage unseres ganzen heutigen weltanschaulichen Ringens reckt sich hier vor uns auf und in welchem Begriffe man das, was da ans Licht will, auch cinzufangen versucht: der Wille zur Wirklichkeit, die uneingeschränkte Bejahung der schicksalhaften Gegebenheiten dieses Daseins, der Ganzheit des Lebens und seiner Forderungen, das ist die Formel für alles Zukunftsträchtige dieser Zeit. Hört man sich nun den erwähnten Kritikus, den »Mann der Praxis« an, so scheint er vom Schriftsteller zu verlangen, dieser solle den Alltag dort aufsuchen, wo er am grauesten ist und die naturalistisch-grausame, photographisch-exakte Wiedergabe davon einem heroisch nach mitleidslosen Abhärtnngskuren verlangenden Zuschauer vorsetzen. Er Übersicht leider, daß es diesen Zuschauer oder Lesertypus nicht gibt, mithin geht er nicht von der Wirk lichkeit, zu der er uns führen will, aus. Sein Gegenredner er achtet seine Befürwortung der verlogenen, verzuckerten, ent- schwertcn Lebcnsdarstellung zwar als Sünde, aber als »läßliche«; eine gutmütige, den zarten Regungen des Mitleids, der Güte und Nachsicht nicht unfähige Seele dürfe es den geplagten Menschen nicht verargen, daß sie gelegentlich in träumerischer Identifikation mit dem ölig-glatten Hauptakteur eines Buches oder Filmes das große Los gewinnen wollen samt märchenschöner Frau im Schloß am Meer. Um diesen Preis hielten sic es in der Wirklichkeit aus, meint er. Aber das ist nicht wahr. Wenn dieser Anwalt der himmelblauen Lüge den menschenfreundlichen Wunsch äußert, die Einkommenshöhe des Durchschnitts möge so bemessen sein, daß allen, die Geschmack am Phantasiesusel haben, die Möglichkeit ge währt sei, sich diesen ein- oder zweimal in der Woche in gehöriger Menge zuzuführen, dann gibt es nur eine Antwort: Weshalb diese armen Wesen mehr als nötig in die Wirklichkeit Hinaus stoßen? Dann würde ja der raffinierte Ausbeuter ein schwär merischer Philantrop sein, der mit folgendem Verfahren die letzte zynische Konsequenz zöge: statt seinen Arbeitern wie bisher einen Lohn zu geben, der ihnen die Erfüllung des weitaus größten Teils ihrer Wünsche nur im Kino, des kleineren Teils in der Wirklichkeit gestattet, schenkt er ihnen unter Verkürzung ihrer Be züge allen imaginären Zauber, das ganze Reich fiktiver Befrie digungen, in Gestalt eines Betriebskinos, in dem seine Leute die ganze Freizeit, bis zum frühen und traurigen Ende der Nar- kotiker, verbringen. Dafür gewinnt er um so mehr im Bereiche der Wirklichkeit... Die Alternative lautet nicht: hie happy end, hie desillusionie- rcnde Darstellung. Ebensowenig darf der Träumer dem Tat menschen entgegengesetzt werden oder die Wirklichkeit dem Traum — solange nicht eine, übrigens durch schlechte Lektüre und Kitschfilme geförderte Entartung, der Zerfall der beiden wirklich- keitsschaffenden Mächte: Wille und Phantasie, eingetreten ist. Man darf nicht einen Krankheitszustand ohne weiteres voraussetzen, man darf weder seine Entstehung begünstigen noch das etwa vor handene Unheil fördern. Nur dem Hoffnungslosen, der, drei Schritt vor dem Grabe stehend, sich über diese Distanz hinweg zutäuschen sucht, mag menschliches Erbarmen mit gnädigen Lügen zu Hilfe kommen. Nicht das bereits Verwirklichte noch das völlig Unerreichbare und Ungemäße ist der gesunden Phantasie, dem Vorspann unseres Willens, die zukommende Nahrung, sondern das Noch-Nicht-Verwirklichte aber Mögliche und uns Ausgegebene, überlassen wir dem großen Kierkegaard das Wort: »Es zeugt von Geist, nach zwei Dingen zu fragen: l. ist das, was gesagt wird, möglich? 2. kann ich's tun? Es zeugt von Geistlosigkeit, nach zwei Dingen zu fragen: I. ist es wirklich? 2. hat's mein Nachbar Christossersen getan? hat er's wirklich getan?« Der Geistlose trägt auch den Namen des Ewig-Gestrigen, weil er die Wirklichkeit nur als das Abbild momentaner Zuständlichkeit sieht, er vermag nur das Verwirklichte, Fertig-Greifbare, nie das alle Wesen und Dinge in ewigem Fluß haltende Bewirkende, wahrzunehmen. Er hofft und glaubt, der gegenwärtige Status sei ein endgültiger und nicht mehr zu überbietender. Zur Tat gedrängt, wiederholt er sich oder andere, »holt« aber nicht etwas Mögliches ins Bereich des Wirk lichen. Eine alle Jllusionsbildung aushebende Lebensdarstellung hat dieselbe negative Wirkung wie die aller Erdenschwere baren Erdichtungen einer unkontrollierten Phantasie: im ersten Falle wird aller Schaffenswille erstickt, im anderen Falle entweder zu vorschnellem und unklugem Handeln ausgereizt — der un bedacht Losstürmende bricht sich beim Sprunge über den ersten Graben, dessen Breite er unterschätzt, das Genick — oder der Leser oder Zuschauer ahnt dunkel das Trügerische und Unver läßlich-Unverbindliche dieser retouchierten »Realität«, betritt nicht die Brücke zwischen Traum und Wirklichkeit, Wünschen und Wol len, und verkapselt sich in seiner Fluchtwelt. Er nimmt nicht in der Imagination das zu Erreichende nur vorweg, sondern läßt sich in verzagend-verzichtender Benommenheit mit dem Genuß des Surrogats abspeisen. Sein scheues Hineintappen in die Wirk lichkeit nach Verlassen des Kinos oder Beendigung der Lektüre offenbart das von Gewissensbissen heimgesuchte Bewußtsein eines willenlosen Selbstbetrügers. Der Größenwahn, die Emanzipation von aller Wirklichkeit, ist die häufigste Geisteskrankheit. Eines Tages schüttelt die Phantasie die Rolle einer dienenden Funktion ab, richtet eine Souveränitätserklärung an die Welt, der Kranke wird symbolischerweise Kaiser und König in ihrem nunmehr un- betretbaren Reiche. Kein Bau wächst vor unfern Augen auf, der nicht zuvor vor »unseres Geistes Aug'« Gestalt gewonnen hätte. Und wenn, um bei diesem Gleichnis zu verweilen, jeder Baukostenvoranschlag überschritten wird, so lehrt uns diese Tatsache, daß es die Auf gabe der Phantasie ist, uns Ziele zu setzen und den Weg zu diesen mit einem Jllusionszauber auszustattcn, der ausreichen muß, uns zum Wirken zu verführen und darin sestzuhalten, aber uns nicht in offenen Widerspruch zur wahren Natur der Dinge ge raten und die Grenzen unserer Möglichkeiten verfehlen lassen darf. Vielleicht bliebe fast alles, was entsteht, ungetan, wenn bereits die Vorstellung uns mit dem vollen Gewicht der zu gewärtigen den Mißhelligkeiten und Opfer bekannt machte. Der Feind im Buche und im Film ist der Traum um des Träumens willen, der den Zuschauer nicht in die Reihen der Handelnden hineinführt, der den Willen narkotisiert statt ihn zu stacheln, der nicht schöpferische Unzufriedenheit mit sich selbst wach erhält, sondern krankhafte Reizbarkeit gegen das miß günstige, fatalistisch hingenommens »Schicksal« erregt, das immer noch nicht das mühelos in den Schoß fallende große Erbe oder große Los bewilligen will. Alte Volksweisheit läßt im Jdeallande unseres Widersachers und seinesgleichen, im Schlaraffenlands den Faulsten, Dümmsten und Gefräßigsten König sein. Gepriesen das Werk, das die ganze Erbärmlichkeit, Lächerlichkeit und Gefährlich keit des Wanstes allen sichtbar zu machen weiß. Die Himmels- tochter Phantasie, ohne die wir hier nichts vermögen, vergönne uns aber nach dem Blick auf das Schreckbild noch die Vision des Vorbildes, des idealen Deutschen. Unsere Besten schufen an seiner erlauchten Gestalt, Dürer prägte sie am gewaltigsten aus und das Empfinden des Heros Nietzsche im Angesichte dieses Werkes künden die Worte: »dies Bild .Ritter, Tod und Teufel' steht mir nahe, ich kann kaum sagen wie«. Einsam, wach, gelassen reitet er in seiner erzenen Männlichkeit dahin, er achtet weder der unheim lichen Begleiter noch des von der Höhe her lockenden roman tischen Zauberschlosses: wirklichkeitsmutig und schicksalsgetreu, ein Inbegriff menschlicher Größe.
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