267, 13. November 1924. Künftig erjcbeinenüe Bücher. Voranzeige Ein drittes neues Weihnachtsbuch für alle Deutschen, das zwar nicht für die Jugend, aber für die Söhne und Töchter, den Vater, die Mutter, den Großvater und die Großmutter hohen Wert besitzt. Es ist ein Buch, auf welches die Worte Goethes passen, die er einst in der Einleitung von „Des Knaben Wunderhorn" geschrieben hat: „Von Rechts wegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Men schen wohnen, am Fenster, unter dem Spiegel oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden, in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstlmmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal Umschlägen müßte." Ich schlage eine Seite des Buches auf, da lese ich: .Da sprach das Mädchen in seinem Herzen: .Ich weiß gewiß, daß Ich meine Brüder erlöse.' Hier, mit diesem Work, stehen wir an der Herzkammer des Märchens. Was wir da spüren, ist das Mysterium. Das Göttlichste auf dieser Weit. .Ich weiß genau, daß ich meine Brüder erlöse.' Das Ist die tzerzensgewißheil, in der aNeln die Rettung möglich ist. Das ist die Stimme, die mit diesen unnennbaren Schwingungen mir aus einer Seele kommen kann: der deutschen Seele. Dieser Klang kommt aus der Unendlichkeit und dringt in die Unendlichkeit. Es Ist das sieghafte Bekenntnis einer Überzeugung, für die cs keine Hemmungen mehr gibt. .Und wenn die Welt voll Teufel wär — Ich weiß gewiß, daß ich meine Brüder erlöse.' Ich schlage das Vorwort auf, da lese ich: Unser Volk besitzt ein Erbe aus alten Zelten, das cs bis heute noch nicht in seinem vollen Wett erkannt hat, einen »»gehobenen Schah, auf den wohl mancher schon im Zufall gestoßen ist, ohne doch das lautere Gold zu entdecken, daS er unter unscheinbarer Hülle birgt. ES ist der Schatz unserer Kinder- und Hausmärchen, den wir nächst der Vorsehung den guten Brüdern Grimm zu danken haben. Unsere echten, alten Volksmärchen sind Weissagung Im edelsten Sinn des Wortes, die unserem Geschlecht seit langem widerfahren Ist: geheimnis-offenbare Kunde über einen sicheren Weg, dem es folgen soll, wenn die Zeit seiner größten Bot gekommen sein wird. Diese Zeit ist heute angebrochen. Und ich wüßte nicht, was uns im .Wort, das geschrieben steht', nächst der Verkündigung des Evangeliums mehr Trost und Kraft geben könnte bet den großen Böten, die unS befallen haben, als jene Urlauke unserer Sprache, ln denen alles bis ins letzte vor hergesagt ist, was da kommen soll: die ganze Trübsal mit ihren Schrecken und Fährnissen, aber auch die große Erlösung von dem Übel, wenn anders wir auf die stillen Zeichen des Lebens achten und ihrer Winke gewärtig sind. 2n dem »Es war einmal' des Märchens klingt für die, die ein Ohr für solche Töne haben, eine zarte Ver heißung mit: »Es wird einmal!' wer weiß! — Es ist nicht nur Rückschau in ferne Vergangenheit, cs liegt darin der ahnungsvolle Ausblick in eine Zukunft, die sich einmal erfüllen soll. Das Märchen ist wie ein sanftes Abend rot, das einen neuen Lebenstag verkündet, wenn erst die Bach! den Lauf vollendet hat. Schon einmal hat ln einer Zeit tiefsten Verfalles unseres Vaterlandes die Versenkung in die Schätze und Wcistümer der Vergangenheit dem deutschen Volk neue Lebensgeister eingehaucht. DaS war damals vor hundert Jahren, als die Brüder Grimm, Tleck, Uhland, Runge, Arnim, Brentano und andere Geistesverwandte ln Heidelberg sich zu einem Freundeskreis zusammenschlossen, dessen Gedanke war, die alten Volkslieder und Volksbücher, Märchen und Sagen wieder zum Leben zu erwecken und vor den Ermatteten und Verzweifelten als