Freitag, 11. März 1938, 4 Uhr nachmittags Man munkelt in der Stadt, erst leise, dann immer lauter: Hitler hat eingegriffen, er hat ein Ultimatum gestellt. Die Leute atmen auf, der Spuk beginnt zu weichen. Wenn Schuschnigg nur seine unselige Wahl abbliese! Und daß sich nur nicht das Ausland einmischt! Obwohl um mich herum die größte Ruhe herrscht, und trotz aller Versicherungen bin ich in einer furchtbaren Spannung. Ich wiederhole automatisch den Satz, der mich quält, als könnte ich damit daS Schicksal beschwören: „Nur kein Ausland, nur kein Ausland!" Es scheint mir, ich stünde vor einem halboffenen Tor, das ich gegen jeden Zutritt zu verteidigen hätte. Eilig schreibe ich nach Hause: „Sagt es allen, es soll sich niemand in die österreichischen An gelegenheiten einmischen, alles wird sich in Ruhe lösen, wenn man endlich einsieht, daß dieses Volk sich seinen Weg nicht mehr von andern vorschreiben läßt. Erkennt endlich die Schicksals stunde, die keine Menschenhand mehr abwehren kann. Mit einer Einmischung, die hier niemand wünscht, können wir nur Böses anrichten und uns die Finger verbrennen." Wie ich meine Leute kenne, verbreiten sie meinen Brief, wo sie nur können. Aber wie klein ist der Freundes kreis, den ich erreiche! Es ist nur ein Tropfen im Meer! Abends Schuschnigg soll zurückgetreten sein. Sei es Gerücht oder Tatsache, ich stürze wie alle Menschen auf die Straße, ich muß Gewißheit haben. Die Straßen sind schwarz von Menschen, die un unterbrochen „Sieg Heil"—„Heil Hitler" schreien. Es grollt/ es donnert herauf, daß einem vor Schreck das Herz still stehen könnte. Wie ein durchgebrochener Strom wälzt sich die brüllende Menge. Die Ketten von Soldaten sind gesprengt, die Maschinengewehre verschwunden. Vom Rathaus siackert eine mächtige Hakenkreuzfahne. Der Bürgermeister hat sie selbst vor einer Stunde hissen lassen und sich daraufhin empfohlen. Trotz der Dunkelheit werden die Häuser beflaggt. Unzählige Formationen sind wieder zur Stelle, Mädchen, Buben, Burschen, Männer, Hun derte von Motorrädern, Autos schließen sich an zu einer Freudenkundgebung, wie das alte Graz sie noch nie erlebte. Stundenlang defiliert der Zug, vor meinen Augen kreisen so viele tausend S750 Nr. 110 Freitag, Len 18. Mat 1988 von Lichtern, daß ich sie nicht mehr sehe, in meine OHn dringen „Sieg Heil"-und „Heil Hitler"- Rufe, daß ich nur mehr ein mächtiges Brausen wahrnehme. Niemals habe ich so etwas erlebt. Daß Freude solche Dimensionen haben kann! Es ist erdrückend, die Menschen sind außer sich. Wo sind meine alten Grazer, deren behäbige Biederkeit mich so manchesmal reizte? Die Fran zosen, die Italiener, sind die reinsten Kaltblütler, verglichen mit dieser Begeisterungsfähigkeit. Fremde umarmen sich, Männer küssen sich und lachen - man erstickt mit Wollust in dem Menschenwall, um mit Leibeskräften sein „Heil" in diesen überwältigenden Chor zu werfen. Welcher Beethoven wird einmal diesen gigantischen Hymnus orchestrieren? Nie habe ich in Österreich so glückliche Menschen gesehen! Das Deutschlandlied steigt auf zum friedlichen, dunklen Himmel. Wie schwer und ernst ist dieses Lied!... Leseprobe aus dem ln wenigen Tagen erscheinenden Buch: 6k>I_l.I?7 Line franzölm erlebt örolZdeutldiland Lru-a 60 §err«/!. 2-t-er/a^ö. l/mrcü/aF. «rrt-a 1.20 Or. Manfred Jasser, Graz, urteilt am Z. V. z8: T dlossl's Vei^og - 6k°02->Vi6n HusUolsnung In l.viprlg: Vol^man 386* Nr. 110 Freitag, Len 18. Mat 1988 2751