Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 24.11.1858
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- 1858-11-24
- Erscheinungsdatum
- 24.11.1858
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- Deutsch
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2260 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. 145, 24. November. von welchem er selber Abends einen beträchtlichen Theil anferligtc, und die diplomatischen Unterhandlungen mit den fremden Machten im Publicum. Meine Ansprüche an die Leihbibliothek waren nur sehr mäßig. Ohne besondere Auswahl ließ ich mir das erste beste Buch geben und fand mich nur regelmäßig in den Abendstunden ein, wann der Ver kehr in diesen Localen am lebhaftesten zu sein pflegt. Bald bildete sich zwischen den guten Leuten und mir ein freundschaftliches Vcr- hällniß. Der Leser, der oft mit dem zweiten oder dritten Theile eines Romans zufrieden war, und selbst nachträglich, wenn der erste nach Hause gekommen, seine Lectüre standhaft verweigerte, belustigte den Bruder, einen kleinen, etwas verwachsenen Gesellen, und das Herz der Schwester gewann meine Vorliebe für Walter Scott, den sie gleichfalls innig verehrte und den ich während der Zeit meines Abonnements wohl dreimal durchlas. Nach vier Wochen eines täg lichen Umganges von etwa fünfzehn Minuten faßten Beide zu mir Vertrauen, machten mir manche Mittheilung und überzeugten mich im Stillen, daß der Romanschreiber, mein grußfertigcr Freund, wohl Recht habe, wenn er vor den Bibliotheken stets den Hut abzog. Ich glaubte zu bemerken, daß der ganze Zusammenhang der mehrbändigen Literatur mit den lesenden Menschen durch diese An stalten vermittelt werde, und ich beeilte mich in allen Häusern, wo ich Zutritt hatte, Forschungen über die Herkunft der Bücher anzu- stellen, welche von den männlichen und weiblichen Angehörigen ge lesen wurden. Zwar waren diese Nachforschungen nicht immer leicht, denn meistens wurden die Bücher, ihres unanständigen und durch- fettclen Aeußern wegen, verborgen gehalten, doch gewann ich bald durch vorsichtige Fragen die Uebcrzeugung, daß alle diese anständigen, zum Theil sogar begüterten Familien ihren Roman- und sonstigen Lesebedarf nur aus den Lescbibliotheken bezogen und noch nie auf den Gedanken gekommen waren, daß es möglich sei, ein neues Buch in dem Laden eines Buchhändlers aufzusuchcn, zu kaufen und mit Behaglichkeit als Eigenthum zu lesen. Die Privatbibliotheken der Familien bestanden nur aus den unvermeidlichen Elasstkern Schiller und Goethe, einem Brockhaus'schenConversationslexikon, keineswegs der neuesten Auflage, und einigen Bändchen lyrischer Gedichte, die unverkennbar nach dem Weihnachtstisch und dem Parfüm irgend eines früheren schwärmerischen Verehrers der Frau vom Hause rochen. Die ganze schöngeistige neuere Literatur ging nur im schä bigen Rcisegewande der Leihbibliothek, an den Ecken abgerissen, mit Makeln im Gesichte des Titelblattes, mit Albernheiten vollgeschrie ben und häufig durch Diebstahl der schönsten Stellen beraubt, durch den Familienkreis Die Zeitungslectürc wurde vierteljährlich mit zwei, die belletristische Erheiterung mit einem Thaler bezahlt; höher als zwölf Thaler durfte die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse dem Hausherrn nicht zu stehen kommen. Ich bat den Romansckrei- bcr im Stillen um Verzeihung, hielt von diesem Tage an die Leih bibliotheken für die Zufluchtsstätten der armen deutschen Literatur und der bejammernswerthen Bücherschreibcr, hing skeptischen Ge danken über vaterländische Bildung nach, glaubte wieder an buch händlerische Treue und Redlichkeit, und begriff nicht, daß Leute von Verstand sich noch mit dem Anfertigen von Romanen beschäftigten, statt sich einträglicheren Unternehmungen, wie der Seeräuberei, der photographischen Nachbildung von höheren Eassenanweisungen, dem prämeditirten Banquerott und anderen modernen Industrien zu widmen. Meine Besuche der Leihbibliothek wurden unterdessen fortge setzt und mein Freund, der Vorsteher derselben, nahm bald keinen Anstand mehr, mich tiefer in scineGeheimnisse cinzuweihcn. „Wenn ein Buch bei den Lesern in die Mode kommt," sagte der verständige Mann, „so sparen wir kein Geld und schaffen eine Menge von Exemplaren an. Ich muß in meinem Viertel so manchen Roman, so manches Theaterstück und Reisewerk halten, das in anderen Stadt- gegendcn nicht verlangt wird. Hier wohnen weniger kleine Leute und das vertheuect mein Geschäft, während man doch annchmen sollte, die reichen Leute kauften irgend ein beliebtes Buch, nur um nicht darauf warten zu müssen, wenn alle Exemplare ausgegeben sind. Was in meinen Kräften steht, thue ich mit Freuden. So besitze ich von G. Freytag' s „Soll und Haben" nicht weniger als sechs Exemplare der großen und der späteren Volksausgabe, allein bei dem Geize des Publicums, das selbst diese spottbillige Ausgabe nicht anschafft, bleibe ich fortwährend in Verlegenheit. Was sagen Sie dazu? Vor sechs Wochen schickt der Prinz L. seinen Jäger und läßt fragen, ob „Soll und Haben" zu Hause sei, der Roman sei ihm als lesenswerth empfohlen worden und er wolle den ersten Theil haben. Ich beeilte mich, dem vornehmen jungen Mann melden zu lassen, daß nicht allein der erste Theil nicht zu Hause, sondern auch geringe Hoffnung vorhanden sei, daß er die folgenden Theile einiger maßen rasch und regelmäßig hintereinander erhalten werde; für einen Prinzen schickte es sich doch wohl, den Roman vom Buchhändler zu entnehmen- Der Jäger trollte ab und richtete die Bestellung aus, aber mein Prinz hatte Geduld; er schickte den armen Kerl täglich, zuweilen zweimal, und jetzt habe ich ihn mit meiner Nachbarin der Bäckerfrau, dem Hufschmied im Hintcrhause und dem Kutscher des Geh. Sanitätsrathes in eine Serie gesetzt, so daß er wenigstens alle acht Tage einen Band erhältl Unter meine angenehmen Leser rechne ich ihn auch nicht, denn er geht mit den Büchern nicht allzu säuber lich um, schreibt grobe Anzüglichkeiten gegen die Verfasser hinein, macht Eselsohren, wenn er beim Lesen unterbrochen wird und wirft mit kleinen Bänden von A. Dumas nach seinen Hunden. Glauben Sie mir, lieber Herr, wir haben ein sehr schweres Geschäft, denn man lebt einmal von dem Publicum und ist zur Höflichkeit verpflich tet, auch wenn einem himmelschreiendes Unrecht geschieht." Der gute Buchhändler hakte eben diese Rede gehalten und hustete ein wenig, als eine saubere Blondine eintrat und nach einem Blick auf einen Zettel sagte: „Die Frau Geh. Räthin läßt um Gervinus' Literaturgeschichte bitten. Sie will den Band haben, in dem Jean Paul besprochen ist. Wenn er nicht da sein sollte, möchte sie etwas von Penseroso oder von Henriette Hanke haben." Der Leihbiblio- thekac machte einige Ausflüchte und verabfolgte dann einen Pense roso. Die Blondine in dem alten seidenen Kleide der Geh. Räthin rauschte hinaus, und der Leihbibliothekar flüsterte: „Sie stellt noch draußen, deßhalb wie finden Sie diese Unverschämtheit? nun soll eine Bibliothek unseres Kalibers ein so gelehrtes und thcurcs Buch, wie den Gervinus anschaffen! Und ich darf gar nicht einmal sagen, daß ich den Gervinus nicht besitze, sonst würde die Geh. Räthin meine Bibliothek bei ihren Kaffeeschwestern in den übel sten Ruf bringen. Ich muß mich unter allerlei Vorwänden so durchschwindcln." Nachdem noch einige ältliche Schneidermamsellcn gekommen waren und um etwas Rührendes für den Sonntag gebeten hatten, entfernte ich mich und stolperte auf der Treppe über einen wiß begierigen Hausknecht, der sich in einen Pcoceß aus dem Pitaval vertieft und auf der untersten Stufe neben der schmutzigen Fuß bürste Platz genommen hatte. Am Montag-Abend war ich Zeuge eines denkwürdigen Streites zwischen meinem kleinen Freunde und einem kammcrdicnerartigen Menschen. Der Leihbibliothekar hatte sich in eine Heftigkeit ge redet, die mir an ihm ganz fremd war. „Bitte, Herr Platzmann, sagen Sie Excellenz, daß ich den Ssgur nicht zurücknehme. Wenn die Herrschaften ihre Bemerkungen in die Bücher schreiben, können sie mir nicht verargen, wenn ich sie ersuche, die Bücher auch zu behalten."—„Excellenz haben mir gesagt," antwortete der sogenannte Herr Platzmann, „das Buch wäre schon alt, und
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