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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 12.12.1883
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- 1883-12-12
- Erscheinungsdatum
- 12.12.1883
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Eine Geschichte der amerikanischen Literatur. Der Professor der englischen Literatur an der Universität Glasgow, John Nichol, hat einen beachtenswerthen Versuch einer Darstellung der nordamerikanischen Literatur gemacht.*) Er ist damit den Amerikanern selber zuvorgekommen; denn bis heute gibt es keine auf amerikanischem Boden entstandene Ge schichte der amerikanischen Literatur, welche den ganzen Gegen stand vom Anfang bis zur Gegenwart in einer für den größeren Leserkreis geschriebenen Form ausführlich und übersichtlich be handelt. Die Schriften neuerer Kenner ihrer heimatlichen ameri kanischen Literatur: Griswold, Curtis, Whipple, Stedmann u. a. beschäftigen sich meist nur mit einzelnen Gruppen und Abschnitten, oder sie sind zu wenig erschöpfend und kritisch; Duycking's großes Werk ist eine Encyklopädie, und Professor Tyler's amerikanische Literaturgeschichte ist so groß angelegt, daß eine Fortführung bis zur Gegenwart nicht zu erwarten steht; die beiden ersten Bände, die bis jetzt erschienen sind, gehen nicht über die Colonialperiode hinaus. Da die deutsche Literatur vollends arm ist an Beiträgen zur Geschichte der amerikanischen, die wirklich aus den Quellen geschöpft sind, so ist umsomehr Grund vorhanden, der Nichol'- schen Geschichte Beachtung zu schenken. Der Verfasser bezeichnet sein Werk nicht als Geschichte der amerikanischen Literatur, son dern bescheidener als historische Skizze. Es steht das fast im Wider spruch mit dem starken, gegen 500 Seiten betragenden Umfang des Werkes, kennzeichnet aber richtig den versuchsartigen Cha rakter desselben. Zu einem vollkommenen Geschichtsbilde fehlt demselben in der That Manches. Man sieht ihm an, daß es nicht ans einem Gusse entstanden ist. Einzelne Abschnitte sind aus Vorlesungen hcrvorgegangen, andere sind wenig geänderte Abdrücke älterer für die lünoz-olopasäis. britanuiea geschriebener Aufsätze. So waren Zeit, Anlaß und Stimmung wechselnde, und die Ueberarbeitung hat dies nicht ganz aus dem Buche verwischt. Seine persönlichen Eindrücke der amerikanischen Cultur hat der Verfasser schon im Jahre 1865 ausgenommen; seitdem hat er das Land nicht wieder besucht. Offenbar vermochte Nichol auch der Entwicklung, welche ihren Höhepunkt in Emerson, dem Haupt vertreter der Schule des amerikanischen Idealismus, erreicht hat, leichter zu folgen als der neueren, bei der ihn die Sicherheit des Urtheils bisweilen verläßt. Manche wollen die amerikanische Literatur bloß als ein Anhängsel der englischen gelten lassen. Ohne Zweifel sind die englischen Vorbilder noch heute von bedeutendem Einflüsse auf sie. Man genießt in Amerika nicht ungestraft das Recht unbe schränkten Nachdrucks. Der amerikanische Geist wird infolge des Nachdrucks aller verkäuflichen englischen Schriften mehr als ihm zuträglich unter dem Einflüsse des englischen Geistes gehalten, und die einheimischen Schriftsteller haben aus demselben Grunde größere Mühe, den Markt zu erobern. Es ist eine Thatsache, daß die amerikanische Literatur bis heute trotz hervorragender Leistungen keine eigentlichen Classikcr aufweist, d. h. Schriftsteller, welche die Welt mit Leistungen, zugleich neu in ihrem ideellen Gehalt und formvollendet, beschenkt hätten. Dennoch fehlt es keineswegs an schöpferischen und bahnbrechenden Geistern, welche amerikanisches Nationalwescn verkörpern. Die wenigsten bedeuten den amerikanischen Schriftsteller entbehren jener Originalität, welche von der Natur ihres Landes und der Eigenart seiner Bevölke rung herrührt. Gerade insofern als die gesammte Literatur der Vereinigten Staaten ursprüngliches amerikanisches Element ver körpert, muß man von einer amerikanischen Literatur als etwas *) American litsraluro, au bistoricul sbstob. 1620—1880. Kctiu- burxb, 1882. Selbständigem sprechen. Und es will scheinen, daß in dem Maße als der amerikanische dichtende Geist sich der nie dagewesenen Großartigkeit eines nationalen Lebens, dem ein ganzer Continent zur Ausbreitung gegeben ist, in dem sich verschiedene Rassen ver schmelzen, und das durch ein öffentliches Leben ans der freiesten Grundlage bewegt ist, bewußt wird, Dichtungen entstehen, welche nach Form und Inhalt die neue Welt tief und voll athmen. Emerson und Thoreau strömen von diesem Athem etwas aus; noch mehr der in Deutschland wenig bekannte, obwohl durch Ferdinand Freiligrath in beredten Worten angekündigte Walt Whitman. Nichol räumt das Vorhandensein einer selbständigen ame rikanischen Literatur vollkommen ein, wenn er sich auch gerade gegen die vom englischen und europäischen Vorbild am meisten befreite Literatur am skeptischsten verhält. In einer guten Ein leitung weist er auf die Einflüsse der geographischen Lage, des Klimas, der Regierung und Cultivirung Amerikas hin, welche mit derselben Nothwendigkeit eine selbständige Entwicklung des Geistes Hervorrufen mußten, wie das in Bezug auf die physische Beschaffenheit der Amerikaner anerkannt der Fall ist. Nichol findet eine Uebereinstimmung zwischen Rußland und Amerika darin, daß weder das eine noch das andere einen seiner politischen Macht entsprechenden Ausdruck in der Literatur ge funden habe. Amerika habe zwar mehr denn eine vcrhältniß- mäßige Anzahl bedeutender Theologen, Juristen, Politiker, Ge schichtschreiber und Naturforscher hervorgebracht; aber außer Ruß land habe doch kein großes Volk der Neuzeit weniger Werke nationaler Art von elastischem Werth geschaffen als Amerika. In Amerika sagt man zur Entschuldigung: „Es fehlt uns nicht an Fähigkeiten dazu, aber wir haben noch keine Zeit zu einer Literatur gehabt!" Amerika gleicht seiner Bundeshauptstadt Washington; man nennt sie wegen ihrer schönen breiten Straßen die „Stadt der prächtigen Perspectiven." Auch Amerika ist ein solches Land der Perspectiven. Die Sorge um das wirthschaft- liche Gedeihen hat seit den Tagen der Colonisirnng die besten Lebenskräfte in Anspruch genommen. Fast die gesammte trans atlantische Literatur ist erfüllt von dem Geiste der Hoffnung auf die Zukunft und des Vertrauens in die Arbeit. Es ist der Geist des Arbeiters, der sich stark genug dünkt für den heftigen Wettkampf; des Farmers, der aufrechten Hauptes auf seinem eigenen Acker steht und über sich von keinem weltlichen Herrn weiß; des Pioniers und Abenteurers, der Wüste und Wildnisse so wenig fürchtet wie die Hexen und Spukgeister der alten Welt. Geographische Verhältnisse und Naturbedingnngen üben auf die physische und geistige Entwickelung der Amerikaner einen mäch tigen Einfluß aus. Eine mit Elektricität geschwängerte Atmo sphäre und eine Temperatur, welche innerhalb vierund zwanzig Stunden zu gewissen Jahreszeiten zwischen 50 und 100 Grad Fahrenheit wechselt, fördern jenen dem Amerikaner eigenen Geist der Unruhe. Ein ungeheures Land, endlos scheinend wie der Ozean, gibt seinem schrankenlosen Ehrgeize Nahrung. Bei europäischen Dichtern und Schriftstellern überwiegt unter den Natureindrücken die Erhabenheit der Zeit. Sie sprechen von den ewigen Bergen, den unversieglichen Flüssen, dem Wechsel der Jahreszeiten. Bei den Amerikanern ist es vielmehr die Aus dehnung des Raumes, welche ihre Vorstellung beherrscht; und während die Europäer in Gegenwart der Unendlichkeit der Zeit die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins empfinden, vergegen wärtigen sich die Amerikaner lieber die Unendlichkeit des Raumes, um sich der menschlichen Beschränktheit bewußt zu werden. Von nichts wird ein Reisender in Amerika so lebhaft betroffen, als von der Erscheinung des Riesenhaften. Die Ströme, Seen,
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