Suche löschen...
Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 06.12.1883
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Band
- 1883-12-06
- Erscheinungsdatum
- 06.12.1883
- Sprache
- Deutsch
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id39946221X-18831206
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id39946221X-188312065
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-39946221X-18831206
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungBörsenblatt für den deutschen Buchhandel
- Jahr1883
- Monat1883-12
- Tag1883-12-06
- Monat1883-12
- Jahr1883
- Links
-
Downloads
- PDF herunterladen
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
5644 Fertige Bücher u. s. w. 282, 6. Deceniber. Max Nordau, Die konventionellen Lügen der Cultnrmenschheit. sb7S16.j Unter der Ueberschrift: „Das schwarze Buch" erschien im Feuilleton der „Wiener Allgemeinen Zeitung" Nr. 1337 vom 17. November d. I. nachstehender Aufsatz, den ich an dieser Stelle Wort für Wort wiedergebe. Das schwarze Buch. Ein schwarzes Buch in der That; denn auf seinen Blättern stehen die Sünden unserer Zeit verzeichnet von einer Hand, die keine Rücksicht kennt und keine Schonung. Ein schwarzes Buch, denn es erzählt von den schweren moralischen Gebresten der zeitgenössi schen Menschheit. Der es geschrieben, kennt sich in Krankheiten aus, er ist Arzt, und wenn er schreibt, führt er die Feder wie im Secir- saale das Scalpel . . . Ein noch junger Mann, dieser Max Nordau, dabei aber schon recht sichtbar grauhaarig; in der Brust ein Jünglingsherz, das allem Guten feurig ent gegenschlägt, auf dem Haupt die Spuren, daß leise der Winter daran vorübergeweht hat; ein deutscher Medicinmann, der in der Fremde die Pariserinnen behandelt und, wenn die Pa tienten ihn loslassen, sich an den Schreiblisch setzt und seine eigenartigen Gedanken mit glänzender Dialektik zum Ausdrucke bringt. Etlichemalc in seinem Leben, das ihn noch nicht an die Vierzig geführt hat, riß er von Paris sich los, aber er ist immer wieder dahin zurückgekehrt, und nun hält Lutetia ihn wohl für immer fest. Vielleicht reizt die französische Hauptstadt ihn durch ihren Reichthum an Material — ob für den Arzt oder den Schrift steller, das ist schwer zu erörtern; denn in Nordau findet man diesen mit jenem organisch verbunden; niemals wirkt Nordau nachhaltiger, als wenn er sich mit Krankheitserscheinungen besaßt. Was er nun darbietet, widerlegt nicht diese Charakteristik. Ein starker Band mit seiner Signatur ist soeben erschienen: „Die conventionellen Lügen der Cnlturmenschheit", das reifste, einheitlichste Werk, das seinen Namen trägt. Vorher hatte er drei kultur geschichtlich-ethnographische Schriften veröffent licht: „Aus dem wahren Milliardenlande", „Paris unter der dritten Republik" und „Vom Kreml zur Alhambra"; jede einzelne hätte ge nügt, dcni Verfasser eine geachtete Stellung zu verschaffen; seine novellistischen Arbeiten verrathen ebenfalls die Löwentatze. Gestrauchelt hat er nur einmal: als Dramatiker, und da fiel eine redliche Hälfte der Schuld aus Den jenigen, der diese Zeilen unterzeichnet. Vielleicht erringt Nordau, wenn er ohne Compagnon den Weg aus die Bühne findet, auch hier die Palme . . . Seine jüngste Publikation, „Das schwarze Buch", ändert die Sachlage mit Einem- male. Nordau tritt aus dem Kreise Gleichbe gabter heraus, er will nunmehr für sich allein beurtheilt sein, und stolz mag er aus sich selbst das geflügelte Wort anwenden; „Ich schreibe nicht, wie man schreibt; ich schreibe, wie ich schreibe." Hier liegt eine Emanation vor, die man sofort als Zeilerscheinung wird in Betracht ziehen müssen. Man mag gegen das, was Nordau vorbringt, vielerlei einzuwenden haben -- ich wüßte solcher Einwendungen mehr als genug — aber man gewinnt die Ueberzeugung, daß das Buch eine natürliche Frucht unserer Tage ist. Hätte Nordau es nicht geschrieben, so würde ein Anderer es geschrieben haben. Daß aber gerade Nordau sich für die Ausfüh rung der unvermeidlichen Mission gesunden, dars uns freuen.; denn Wenige hätten es so wie er verstanden, die schrecklichsten Wahrheiten in ein schönes, bestechendes Gewand zu kleiden. Er ist eben Arzt und hat gelernt, Einem die bitterste Pille in solcher Art zu verordnen, daß man sie gerne nimmt. Und in der That, das schwarze Buch geht nun von Hand zu Hand wie ein Senjationsroman; in den Leihbibliotheken ver langen die Damen seit zwei Wochen mit ihren lieblichen Stimmen die „Lügen der Menschheit"; ein einziges Wiener Lese-Jnstitm allein hat siebzig Exemplare in Umlauf gesetzt.*) Das verdient ausdrücklich betont zu werden, denn Nordau thut nichts, um den Leser freundlich zu stimmen; er gesteht nicht einmal dem weiblichen Geschlechte das Privilegium der „Unverstanden- heit" zu. Ernsthast und gemessen erscheint er als naturwissenschaftlich geschulter Gesellschafts- Philosoph; womit er sein Publicum fascinirt, das ist der Athem der Wahrheitsliebe, der durch die Seiten seines Buches geht. Die zünftigen Philosophen freilich werden ihn abweisen. Man erinnere sich daran, wie die Professoren Schopen hauer ignorirten, wofür der Frankfurter Weise sich gerächt hat durch seine Aeußerungen über die „Universitäts-Philosophie", deren Zweck es sei, den „Studenten im tiessten Grunde ihres Denkens diejenige Geistesrichtung zu geben, welche das die Professuren besetzende Ministerium sei nen Absichten angemessen hält". Nordau hat sich selbst wohl um jede Professur geschrieben. Wenn er je von einer Regierung etwas er warten durfte, so hat er mit dieser Aussicht gebrochen, er müßte denn die Schweiz oder Nordamerika im Auge haben — die Republik Frankreich hört, als wäre sie ein Kaiserreich, noch immer ans einem Ohre schlecht, wenn man ihre Approbation dazu verlangt, alle, alle Götzen von den Altären zu stürzen ... Wie gesagt, dem Schriftsteller Nordau schlägt der Arzt ins Genick. Er zeigt die Krankheits- Ericheinungen der Menschheit, er beschreibt sie, und z»m Schluffe spricht er von einer Heil methode. Sämmtliche Aerzte mögen mir ver zeihen, wie die Besten unter ihnen ist er in der Pathologie größer als in der Therapie. So lange er sich aus dem Felde der ersteren bewegt, folgen wir ihm willig durch ein: schauerliche Hölle man weiß, wie Virgil den Dante führt — aber wenn er hierauf uns unterrichtet, wovon er sich den Eintritt einer Besserung verspricht, dann schütteln wir be denklich den Kopf und begreifen, daß er der Tragödie einen versöhnlichen Schluß geben wollte, um uns nicht verzweifelt zu entlassen. Nach so viel Dunkel sollte ein Lichtblick uns erfreuen; aber uns fehlt der Glaube, und er scheint es nicht als peinigendes Zeugniß dafür, daß die volle, die reine, die ganze Wahrheit nicht von dieser Welt ist, wenn der Verfasser eines Buches, das jeder Verlogenheit die Larve vom Antlitz reißen will, zum Schluffe uns und sich selbst in eine schöne Täuschung wiegt, welche nur wie ein dünner Flor das Bild zu Saks verschleiert? ... In dem Vorwort vin- dicirt Nordau sich mit Recht den Muth, endlich *) Darunter ist das Literatur-Institut von E- Last in Wien gemeint, das von dem Buche seither n o ch 12 0, im Ganzen also einhundert- undneunzig Exemplare bis heute bezog. Die Verlagshandlung. zu sagen, was Millionen Menschen denken, ohne daß sie wagen, es auszudrücken. „Die schwere Krankheit der Zeit," meint Nordau, „ist die Feigheit. Man wagt nicht, Farbe zu be kennen, für seine Ueberzeugungen einzutreten, seine Handlungen mit seinen Empfindungen in Einklang zu bringen . . ." Und weiter: „Dieser Mangel an Ehrlichkeit und Mannesmuth er streckt die Lebensfrist der Lüge und verzögert unabsehbar den Triumph der Wahrheit. So hat denn wenigstens der Versasser seine Pflicht gegen sich und die Gesinnungsgenossen erfüllen gewollt. Er hat seine Ueberzeugungen laut und ohne irgend einen Rückhalt ausgesprochen." Dieses Programm hält er getreulich ein. Er zerlegt sich seinen reichen Stoff iu folgende Capitel: „Nsus, Dsüsl, llpkursin", „Die re ligiöse Lüge", „Die monarchisch-aristokratische Lüge", „Die politische Lüge", „Die wirthjchasl- liche Lüge", „Die Ehelüge" und „Allerlei klei nere Lügen". In jeder Zeile lernen wir ihn als freie», aller Schranke» spottenden Geist kennen; es gibt kein Herkommen, an welchem er nicht rüttelt; die Kirche und der Staat, sie haben keine Einrichtung, die er nicht verwirft; das moderne Leben weist keine Conoenienz auf, die er nicht als Hohlheit brandmarkt. Und das Alles in seinem krystallklaren, reinen Stil, in einer den Phrasen abholden und dabei doch am rechten Orte schwungvollen Sprache, populär im besten — seine Gegner werden sagen: im gefährlichsten — Sinne, denn er schreibt so, daß jeder Gebildete ihn verstehen muß und dabei in die Fangarme dieser haarscharfen Argumentation fällt. Nordau beweist, wie alle Triebräder unserer Zeit von der Lüge und nur von der Lüge, meistens von der bewußten, be wegt werden; so lange er das thut, wird kaum irgend Jemand ihm Unrecht geben können; eine begründete Opposition rust er in dem prüfenden Leser nur dann wach, wenn er — um ä, baut xrix noch etliche Lügen ausfindig zu machen — wirlhschastlichc Paradoxa ausstellt oder zum Beispiel nicht zugeben will, daß für gewisse Länder unter gewissen Umständen die erbliche Monarchie das einzige erhaltende Prinzip sei. . . . Den angeführten Capiteln fügt er eine „Schlußharmonie" bei, in welcher er von späteren Jahrhunderten das Heil der Mensch heit, die Befreiung von der Lüge erwartet. Zu Anfang des Buches bezeichnet er die Vorliebe für archäologische Romane als eine Flucht aus der Gegenwart, welch' letztere eben nichts Erquickliches zu bieten habe. Am Ende unter nimmt er selbst eine solche Flucht, aber nicht zurück in das nebelgraue Alterthum, sondern in die Zukunft. Diese soll gewähren, was die Gegenwart versagt: den Sieg der Wahrheit, die Verdrängung des Egoismus durch den Altruismus, ein Geschlecht, dem die Lüge ein fremdes Element ist. Nordau ist, dem landläufigen Begriffe nach, Pessimist, aber er documentirt zugleich, daß der Pessimis mus sich mit dem Idealismus verträgt; er ist, gleich Marquis Posa, ein Bürger der Jahrhunderte, die kommen werden, er ist es aus scientifischcr Grundlage. Die Entwicklungs theorie soll ihm garantiren, daß wir von der Lüge zur Wahrheit emporschreiten werden. „Was der Menschheit bcvorsteht," sagt er, „das ist Erhebung und nicht Erniedrigung; ihre Entwicklung macht sie besser und edler, nicht schlechter und gemeiner, wie ihre Verläum- der behaupten; durch die reine, durchsichtige Atmosphäre der naturwissenschaftlichen Welt anschauung sieht sie ihr Entwicklungs-Ideal kla rer und strahlender als durch die dichten Wol ken und Nebel des transscendentalen Aber-
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder