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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 06.12.1883
- Strukturtyp
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- 1883-12-06
- Erscheinungsdatum
- 06.12.1883
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- Deutsch
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^ 282, 6. December. Ferüge Bücher u. s. w. 5645 glaubens." Nordau läßt die „Schlußharmonie" damit enden, daß er die Zuversicht ansspricht, der Triumph der Wahrheit winke den noch zu erwartenden Generationen, „In den bestehen den Formen" lesen wir, „kommt der Egoismus zum Ausdruck; die Formen, welche ihre Stelle einzunehmen berusen sind, wird der Altruis mus vorzeichnen. Die Selbstsucht erweckt den Wunsch, Andere zu beherrschen, sie sührt zum Despotismus, sie macht Könige, Eroberer, eigennützige Minister und Parteiführer; die Gattungsliebe gibt den Wunsch ein, der Ge- sammtheit zu dienen, sie sührt zur Selbst verwaltung, zur Selbstbestimmung, zu einer Gesetzgebung, die bloß von der Rücksicht auf das Gemeinwesen inspirirt ist. Die Selbstsucht ist die Ursache der schlimmsten Ungerechtig keiten in der Gütervertheilung; die Solidarität gleicht diese Ungerechtigkeiten soweit aus, daß Bildung und tägliches Brod jedem Bildungs fähigen und Arbeitswilligen gesichert sind. Der Kampf ums Dasein wird so lange währen, wie das Leben selbst, uns er wird immer die Ursache aller Entwicklung und Vervollkomm nung sein, aber er wird mildere Formen an nehmen und sich zu seinem heutigen Wüthen so verhalten, wie die Kriegführung gebildeter Nationen zum Würgen von Menschenfressern, Aus die Civilisation von heute, deren Kenn zeichen Pessimismus, Lüge und Gelbsucht sind, sehe ich eine Civilisation der Wahrheit, der Nächstenliebe, des Frohmuthes folgen. Die Menschheit, die heute ein abstrakter Begriff ist, wird dann eine Thatfache sein. Glücklich die spätergeborenen Geschlechter, denen es beschie- den sein wird, umspielt von der reinen Lust der Zukunft, übergossen von ihrem helleren Son nenschein, in diesem Bruderbünde zu leben, wahr, wissend, frei und gut!" Glaubst du noch heute, Freund Nordau, nachdem du es schwarz auf weiß liesest, an diese liebenswürdige Schwärmerei, welche dir den Abgrund, an dessen Rande du mit dem Leser dahingewandelt bist, plötzlich mit Rosen- Guirlanden überdecken soll? , , , Lügen nur wir, und werden unsere Enkel die Ritter der Wahrheit sein? Werden aus unseren Lastern die Tugenden der Nachkommen erblühen? Wird das Gesetz der Solidarität jemals die Welt regieren? Fragen und keine Antwort, , , , Die Zukunst ist keine Sphinx, die um eines Oedipus willen sich in den Abgrund stürzt, Ucbrigens hat Nordau für seine Zukunstshoff nungen viel weniger Worte, als für feine Be schuldigungen, die er wider die Gegenwart erhebt. Da glaubt mau vftsmals einen eigens bestellten öffentlichen Ankläger zu vernehmen, so wuchtig geht die Rede nieder, Schlag auf Schlag, gegen die Jnculpatin, genannt Cultur- menschheit, Gleich das erste Capitel genügt, nm den Charakter des Buches zu verratheu, „Die Culturwelt ist ein einziger ungeheurer Krankensaal, dessen Luft beklemmendes Stöhnen füllt und aus dessen Betten sich das Leiden in allen Forme» windet," Nach solchem Prä- ambulum werden die Länder, eines nach dem anderen, vorgenommen. Wie aus einer Wan- deldecoration ziehen a» uns vorüber: Deutsch land mit dem Anti-Semitismus; Oesterreich- Ungarn mit dem Nationalitätenstreite; Rußland mir der Corruption und dem Nihilismus; England mit seiner im Anzuge befindlichen wirthschastlichen Revolution, Italien mit der Jrredenta, Camorra und Massiv; Frankreich mit dem unvermeidlichen Zusammenstöße der alten Parteien; Spanien mit dem Carlismus und Cantoualismus; Dänemark mit seiner Bauern partei »pd seiner chronische» Ministerkrisis; Belgien mit seinem wehrhaften Ultramontanis mus u, s, w. u. s, w, — ein toller, unheim licher Hexensabbath, Von einer Wanderung durch die Jahrhunderte bringen wir die Lehre mit, daß die heutige Zeitstimmung in der Vergangenheit ihresgleichen nicht hat, „Nur einen Moment gibt es in der Weltgeschichte, der in dieser Hinsicht an dieGegcnwart erinnert, und das ist dieEpoche des Todeskampfes der antiken Welt," Wir leben mit ten unter Einrichtungen, die wir längst als Lügen erkannt haben, unddas macht uns —nachNordau— zu Pessimisten und Skeptikern ,,, Nachdem der Autor in der Ouvertüre: „blsus, Dskel, Ilpbur- sin" sozusagen die wichtigsten Lügenmotive zu- sammengefaßt hat, führt er diese nun bis ins feinste Detail aus. Von vernichtender Eindringlichkeit sind die Abtheilungcn über die religiöse und über die monarchisch-aristokratische Lüge; sie werden ge wiß Widersacher in Menge finden; denn sie versuchen, mächtigen privilegirten Classen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Die Ab handlung über die „Ehelüge" dagegen darf auf Zustimmung aller Denkfähigen rechnen; hier vertritt Nordau den schönsten und edelsten Standpunkt, indem er die Convenienz-Ehe, die aus Spekulation geschlossene Ehe mit uner bittlicher Strenge brandmarkt und der Liebes- Ehe das Wort spricht. Es verschlägt nichts, daß er sich dabei der naturwissenschaftlichen Terminologie bedient und die Schopenhauer'sche Definition der Liebe aufgreift und also variirt: „Liebe ist die instinktiveErkenntniß eines Wesens, daß es mit einem bestimmten Wesen des an deren Geschlechtes ein Paar bilden müsse, damit seine guten Eigenschaften gesteigert, seine schlechten ausgeglichen werden und in seinen Nachkommen sein Typus wenigstens unverküm- mert erhalten bleibe, womöglich aber eine Jdcalisirung erfahre," ,,, Nordau findet in dem Menschen zwei leitende Grundtriebe: Selbst erhaltung und Gattungserhaltung, Jene kom men am einfachsten als Hunger, diese als Liebe zur Erscheinung ,,, Solch eine Erklärung mag Denen, die nach der blauen Blume suchen, un angenehm in die Ohren klingen; aber die Ro mantiker von Profession sind oft im Leben am wenigsten Idealisten, indessen gerade aus festem Boden sich manche wahrhaft ideale Meinung aufbaut, Oder ist es nicht mehr Werth als alle Schwärmerei in klingelnden Reimen, wenn Nordau entrüstet ausrust: „Was hat nun die Lüge unserer Civilisation aus der Ehe ge macht? Sie ist zu einer materiellen Ucberein- kunfl herabgcsunken, in welcher für die Liebe so wenig Platz bleibt, wie im Genossenschafts- Verträge zweier Kapitalisten, die zusammen ein Geschäft unternehmen," Mögen zartbesaitete Gemüther darüber in Krämpfe fallen, daß Nordau bei dem Zusammenfindeu der Ehe paare die Zuchtwahl sür ein wichtiges Moment hält — es gibt gar manche schöne Seel chen , welche den Zauber der Liebe in formvollendeten Sonetten besingen und es dann doch ganz begreiflich finden, daß bei einer Heirath die Mitgift eine entscheidende Rolle spielt. Man stelle doch neben das Liebes- gewinsel der üblichen Mondschein-Lyriker einige der Nordauschen Lapidarsätze, aus denen ein heiliger, tiefer Ernst auslodert, mit seiner Flamme alles Unreine verzehrend: „Wo ist der Unterschied zwischen dem Manne, der von seiner Geliebten ausgehalten wird, und dem, der einer Erbin oder der Tochter eines einflußreichen Mannes, sür die er nicht die geringste Liebe empfindet, den Hos macht, um mit ihrer Hand zugleich Reichthum oder Stellung zu erlangen? Und wo ist der Unterschied zwischen der Dirne, die sich an einen Unbekannten gegen eine kleine Vergütung verkauft, und der züchtigen Braut, die sich vor dem Altar mit einem ungeliebten Individuum vereinigt, welches ihr im Aus tausche für ihre Umarmung einen gesellschaft lichen Rang oder Toiletten, Schmuck und Dienerschaft oder auch nur das kahle tägliche Brod bietet? Die Beweggründe sind in beiden Fällen die gleichen, die Handlungsweise ist die selbe, ihre Bezeichnung muß nach Wahrheit und Gerechtigkeit dieselbe sein,",, , „Die seltenen Ausnahmssälle, in welchen ein Mann und ein Weib sich in legitime» Forme» vereinigen, ohne anderen Grund und Wunsch, als einander in Liebe anzugehören, werden von den vernünf tigen Leuten förmlich verhöhnt, und man warnt die Jugend vor ihrer Nachahmung," Nordau nennt die konventionelle Ehe, wie sie in neun Fällen unter zehn geschlossen wird, ein tief un sittliches, sür die Zukunft der Gesellschaft ver- hängnißvolles Verhältniß: „Sie bringt Die jenigen, welche sie eingehcn, früher oder später in einen Conflict zwischen beschworenen Pflichten und der unausrottbaren Liebe und läßt ihnen nur die Wahl zwischen Gemeinheit und Unter gang, Statt eine Quelle der Verjüngung sür die Art sein, ist sie ein Mittel langsamen Selbst mords derselben," Von tiefer Empfindung zeugen die Stellen, welche in dem Capitel „Ehelüge" der alten Jungfer und ihrem einsamen Schicksal gewidmet sind. Auf einer ganz anderen Saite, welche den Hypersenti mentalen mißtönig erscheinen mag, spielt unser Autor, wenn er darthut, wie vom rein anthro pologischen Standpunkte aus die Einzel-Ehe keine natürliche Berechtigung habe. Was heute wirklich Liebe sei und zu einem Bunde im Sinne der Monogamie führe, könne morgen vor über sein, „Es ist gut," hcitzt es bei Nordau, „daß Romeo und Julie jung gestorben sind. Wäre die Tragödie nicht mit dem fünften Act zu Ende, ich bin nicht sicher, ob wir nicht sehr bald von Zerwürfnissen zwischen den beiden reizenden jungen Leuten hören würden. Ich habe schreckliche Angst, daß er nach wenigen Monaten eine Maitresse genommen und sie sich mit einem veronesischen Edelmann über ihre Verlassenheit getröstet hätte. Es wäre zu entsetzlich: ein Scheidungsprozeß als Epilog der Balkonscenc, Ich gehe aber weiter und behaupte: wie ich Romeo und Julie kenne, wäre das sogar ganz sicher geschehen, denn sie sind Beide sehr jung, sehr leidenschaftlich, sehr unvernünftig und sehr beweglich gewesen, und eine Liebe, die auf einem Balle entsteht und durch den ersten Eindruck einer schönen leib lichen Erscheinung veranlaßt ist, pflegt erfah rungsgemäß nicht viele Nächte, in deren Mor gendämmerung man „die Nachtigall und nicht die Lerche" zu hören glaubt, zu überdauern, Haben aber darum Romeo und Julia einander nicht geliebt? Ich möchte De» sehen, der das zu behaupten wagte! Und hätten sie einander nicht heirathcn sollen? Das wäre eine Tod sünde gewesen vom Standpunkte der Menschen zucht ebenso sehr wie von den: der Dichtung," Doch genug der Citate, Am liebsten möchte ich das Buch abschreiben — das werden im Lause der Zeit andere wohl besorgen — denn einzelne Proben geben kein genügendes Bild dieser ganzen Erscheinung, zumal so manche markante Stelle hier nicht reproducirt werden kann. Man verübelt nur zu leicht der Zeitung, was man einem Buche verzeiht, Ihr habt es doch besser, ihr Büchermacher, als wir anderen, Ihr dürft sagen, was ihr euch denkt; ihr müsset euch kein Blatt vor den Mund nehmen und die geistreichen Sachen brauchen euch nur einzusallen, damit ihr sie drucken lasset, UnS Zeitung»-
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