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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 22.01.1883
- Strukturtyp
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- 1883-01-22
- Erscheinungsdatum
- 22.01.1883
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- Deutsch
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17, 22. Januar. Nichtamtlicher Theil. 303 Nichtamtlicher Theil. Ein Gespräch mit meinen Kindern. Von Wilhelm Jensen.*) Es gibt offenbar Leute, welche mit einem Trieb zur Welt kommen, die Unzulänglichkeiten menschlicher Einrichtungen in Vollkommenheiten umzuwandeln. Der Eigenart des geborenen Genies entsprechend, verharren sie oft geraume Zeit in Unklar heit darüber, welche Richtung ihnen für ihre heilbringende Begabung angewiesen ist; aber sie tragen unabänderlich das ernste Bewußtsein im Busen, daß etwas verbessert werden muß und daß sie dazu berufen sind, der Menschheit diese Wohlthat zu erzeigen. Wenn die Gehirn-Physiologie ihnen eingehende Aufmerksamkeit angedeihen ließe, würde sie vermuthlich ein be sonderes Verbesserungsorgan in ihren Köpfen ausfindig machen. Der Genius desselben ist nicht wählerisch, er kehrt in der Hütte und im Palaste ein, in der Werkstatt arbeitsamer Hände, wie im Schreibzimmer erfindungsreicher Gelehrsamkeit. Das ebenso nützliche als ehrenwerthe Gewerbe der Schuster erzeugt seit alten Tagen mit Vorliebe jenen von sich selbst überzeugten Tiefsinn, der die gährende Hefe für den Verjüngungstrunk der altersschwach gewordenen Welt bildet; aber auch Geheimräthe aller Classen wetteifern mit ihren Verdiensten um die allgemeine Heilbedürftig keit. Vielleicht stehen die letzteren in genialer Ursprünglichkeit den geistigen Koryphäen der trefflichen Schuhmacherzunft manch mal etwas nach, doch sie ersetzen diesen geringfügigen Mangel durch desto unumstößlichere Selbstüberzeugung von der inner lichen Erkenntniß und Unübertrefflichkeit ihres Heilandberufes. Darin stimmen indeß die Mitglieder der gesammten Verbesserungs zunft überein, daß es ein äußerst lächerliches Sprichwortansinnen für sie sei, bei ihren Leisten zu bleiben, sondern, daß vielmehr die Anforderung an sie ergehe, sx eutbeckra die Erleuchtung ihrer übergeordneten Geisteskraft zu verkündigen und pro vii-ibus die Beschlußnahmen ihrer Unfehlbarkeit mit den althergebrachten Mitteln der letzteren — durch Gliederverrenken, Hängen, Köpfen, Rädern und Verbrennen — ins Werk zu setzen. Denn niemals zeigt sich der Mensch freigebiger mit Daumschrauben, Strick, Beil und Feuer, als wenn er ganz von seiner wohlthätigen Gesinnung und Menschenliebe durchdrungen ist. Leider hat Mißgunst der Zeit das Ausrottungsverfahren der Erleuchteten in Bezug auf die Objecte etwas eingeschränkt. Nicht, als ob eine schwächliche Verkümmerung des angeborenen und unbeschränkten Verbesserungsdranges stattgefunden hätte; wenn unsere Tage nur gewisse, ihnen allmählich angeflogene Eigeu- thümlichkeiten ablegten und im Gewände der „guten alten Zeit" daständen, wären hunderttausend Aerzte augenblicklich zur Hand, in edlem Wetteifer die alten himmlischen und irdischen Recepte „reüeriren" zu lasten. Wir würden wahrscheinlich höchlichst über rascht sein, in manchem guten, stets liebenswürdig lächelnden Freunde einen hochgelehrten Doctor anzutreffen, der uns prüfend betrachtete, unsere Anamnese aufnähme und nach kurzer Aus kultation erklärte, für unser Heil sei eine fortgesetzte Cur bei Brot und Wasser, die Amputation eines Armes oder Beines, vielleicht auch des Kopfes, oder eine nachhaltige Moxe durchaus erforderlich. Aber die erwähnte Verschlechterung der Zeitum stände hat solche körperliche Heilmittel aus den Pharmakopoen > *) Der vorstehende Artikel, den wir mit gefälliger Erlaubniß des Herrn Verlegers der „Gegenwart" (Berlin, Stille) entnehmen, enthält so treffende Wahrheiten über die neue orthographische Institution rc., daß wir nicht unterlassen können, dieselben auch an dieser Stelle zu weiterer Verbreitung zu bringen. Die Red. und den chirurgischen Bestecken ausgeschieden; bauck ckubia lau- äunäa voluntas, ssä ässuut vires, und der hygieinische Ver- besserungstiefsinn sieht sich — vorderhand — in der bedauer lichen Nothlage, sein leibliches Ausrottuugsverfahreu auf ein geistiges Gebiet zu beschränken. Doch auch auf diesem läßt sich immerhin eine befriedigende und gediegene Karst- und Hacken- Wirksamkeit üben. Es gibt manch alten, hochwipfligcn Gemeinde wald, der sich ausroden und in eine dürre Haide verwandeln läßt; manches tiefinnerliche Besitzthum des deutschen Volkes von Vätern her kann man heimlich zu verzetteln oder plötzlich offen weg zu escamotiren versuchen. Und die päpstlichen Taschenspieler in Schusterröcken und Geheimrathsfräckcn sind emsig an der Arbeit. Ein Bereich, auf das sie neuerdings ihre umwühlende Thätigkeit mit besonderem Fleiß verwenden, ist das unserer Sprache. Wir haben vor kurzem etwas in der Mcnschen- geschichte — wenigstens in derjenigen gebildeter Völker — noch nicht Geschehenes erlebt, daß einem Volke von ungefähr sechzig Millionen Köpfen „pur orärs äs Llutti" Anweisung ertheilt worden, Wie es sich seiner Sprache bei schriftlicher Anwendung zu bedienen habe. In der That, das deutsche Volk muß an einer entsetzlichen Ernsthaftigkeit leiden, daß es nicht in ein ein stimmiges, schallendes Gelächter über diesen sublimen gesetz geberischen Gedanken ausgebcochen ist; denn daß es so stumpf sinnig sei, die ungeheuerlichste und wahnwitzigste Antastung eines unverbrüchlichen Volksrechtes darin nicht zu empfinden, wäre eine Annahme, die es uns als etwas zweifelhafte Ehre er scheinen lassen dürfte, ihm anzugehören. Wir sind freudig bereit, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist — im Uebrigen wird die Feder desselben schwerlich in der „neuen Orthographie" reden — und meinetwegen mag man auch einem Geheimrath im Cultusministerium geben, was des Geheimraths ist. Aber eben deshalb gebe man ihm auch in altem Deutsch die Antwort, welche auf die knabenhafte Vermessenheit gebührt, durch bureau- kratischen Erlaß einem lebendigen, gewordenen und rastlos werdenden Organismus eine Abänderung seiner Functionen vor schreiben zu wollen. Selbst die französische Akademie wagt in dieser Richtung nichts weiter, als festzustellen, was in der unab lässig thätigen Lebenswerkstatt des Volkes geworden ist; bei uns jedoch glaubt, nicht etwa eine Corporation sprachverständiger, reiflich wägender Männer, sondern das „ts! est uotrs plaioir" eines einzelnen — ich will mich nicht unparlamentarisch aus- drücken — Menschen decretiren zu können, was Schriftrecht und Schriftfrevel sei, und die Staatsbüttel in Bewegung zu setzen, um die Maleficanten — einstweilen freilich nur noch die un mündigen — an den Ohren zur Rechenschaft zu ziehen. Ver muthlich sah der Urheber dieser großen orthographischen That bei der ersten genialen Erleuchtung seines Kopfinnern sich be reits in Tuffstein ausgehauen, die Denkerstirn mit Distellaub umkränzt, im Thiergarten stehen und zu seinen Füßen die goldene Sockelinschrift: „Die Nachwelt dem Geheimrath zweiter, dritter oder vierter Classe, Müller oder Schulze, dessen er finderischem Geiste das deutsche Volk für alle Zeit seine Recht schreibung verdankt." Vielleicht drückte in seiner lebhaften Vor stellung die Rückseite des Sockels noch das Bedauern der Nach welt aus, daß der erhabene Wohlthäter nicht auch für den mündlichen Verkehr dss Volkes eine neue Grammatik „be ordert" habe. Ich hielt die Sache anfänglich für einen sehr schlechten Witz, dann für eine recht gute Satire, welche dem Gehilfen eines conservativen Ministeriums unterschob, daß derselbe heimlich die 44*
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