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Börsenblatt für den deutschen Buchhandel : 22.01.1883
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Band
- 1883-01-22
- Erscheinungsdatum
- 22.01.1883
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- Deutsch
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304 Nichtamtlicher Theil. ^ 17, 22. Januar. allerradicalsten Tendenzen verfolge und ohne Vorwissen seines hohen Chefs mit vollendetstem Nihilismus wenigstens auf einem ihm zugänglichen Gebiete das Bestehende zu untergraben trachte. Erst als ich in praktische Berührung mit der sogenannten neuen „Orthographie" gerieth, erkannte ich meinen Jrrthum und blieb mir kein Zweifel, daß ich einem ernsthaften geheimräthlichen Elaborat gegenüberstehe. Ich ward zum täglichen Kinderspott in meinem eigenen Hause. Meine Kinder kamen im Beginn und cousultirten mich zutrauensvoll für ihre Schulaufgaben, wie dies und jenes Wort geschrieben werde. Unbefangen antwortete ich darauf, bemerkte indeß nach einiger Zeit, daß die Kinder mich zuweilen mit sonderbaren, argwöhnischen Blicken betrachteten. Noch blieb ich ahnungslos, bis einmal eines weinend aus der Schule heimkehrte, und ich es schluchzen hörte: „Ich habe eine ,Tatze' bekommen, weil der Papa so ungebildet ist; er weiß gar nichts und kann nicht einmal richtig schreiben." Seitdem war meine Bildungslosigkeit unbezweifelt, und man wußte im Hause, was man von mir zu halten hatte. Daraus erwuchs rasch eine erfreuliche Umgestaltung der Verhältnisse; man befrug mich nicht mehr, um von mir eine nützliche Auskunft zu erhalten, sondern das kindliche Mitleid hatte dies Mittel ausfindig gemacht, um mich unvermerkt zur Stufe eines gebildeten Menschen empor zuheben. So verging kein Tag, ohne meine Kenntnisse in der überraschendsten Weise zu bereichern; es ist indeß begreiflich, daß die Sache trotzdem ein wenig Bedrückendes für mich an sich hatte und mich die Fülle der Belehrungen mit einer gewissen Schweigsamkeit ausnehmen ließ. Außerdem ging ich immer seltener aus, da ich den Lehrern und Lehrerinnen meiner Kinder zu begegnen und offen an den Tag gelegte pädagogische Miß achtung in ihren Blicken befürchtete. Mir war es bereits vor gekommen, als ob die mittäglich hervorpolternde Jugend einer Volksschule einmal mit Fingern auf mich, als auf einen notorischen Analphabeten gedeutet habe. Derartige Dinge verleugnen auch auf das Innere eines Menschen ihren Einfluß nicht, ich begann etwas von dem Gefühl eines mittelalterlichen Aussätzigen zu be kommen. Eines Nachts im Traum entschloß ich mich zu einer Pilgerwanderung nach Rom, um dem heiligen Vater den Fuß zu küssen und ihn demüthig anzuflehen, mich von der Ausstoßung aus der Menschheit zu lösen. Doch als ich mich, im Vatican eingetroffen, kniend auf den Pantoffel bückte, befand sich in diesem nicht die Extremität einer gewöhnlichen „SantitL", sondern die jenige des Geheimraths Müller oder Schulze, und derselbe sprach zu mir, alle Sünden könnten vergeben werden, nur nicht der Zweifel an geheimräthlicher Weisheit, denn das sei eine Sünde wider den heiligen Geist heutiger Staatsreligion. Und damit stieß sein Pantoffel — eigentlich, glaube ich, war es ein großes Filzboot — mich armen Tannhäuser vor die Brust, daß ich hinterrücks überfiel und aufwachte. Im Verlauf des folgenden Tages aber kamen meine Päda gogischen Kinder zu mir und frugen, scheinbar lernbegierig: „Papa, wie wird „Thau" geschrieben?" Ich antwortete: „Meint Ihr den Strick, der zu vielen nützlichen Dingen verwerthbar ist, oder die Flüssigkeit, die sich manchmal auch in der Form von Mehlthau auf blühende Gewächse niederläßt?" — „Beides", lautete die Erwiderung, und mir entflog's halb unbewußt über die Zunge: „Lieben Kinder, fragt nicht so dumm! Wer diese beiden verschiedenen Gegenstände in der Schrift mit den näm lichen Buchstaben bezeichnen wollte, müßte geradenwegs ungeheilt aus dem Narrenhause zurückkommen. Denn der oberste Zweck aller Orthographie ist Deutlichkeit, die Verhinderung von Ver wechslungen, wo solche durch Gleichklang einzutreten vermögen; die Schrift bezweckt mit andern Worten sichere und rasche Auf-! fassung ihres Inhalts. Dem gesellt sich noch hinzu, daß in ebenso erfreuender, anheimelnder, als nutzreicher Weise jedes Wort für unser Auge einem Bilde gleicht, das sich mit dem Begriff desselben in unserer geistigen Anschauung deckt, und darum schreiben wir weislich den Wassertropfen mit einem h und das Seil, das unter Anderem zu einem Galgenstrick dienen kann, ohne dies Unterscheidungszeichen. Wäre es umgekehrt Brauch, würde es auch den gleichen Zweck erfüllen, denn die Schrift einer gebildeten Sprache hält lediglich diesen bei gleichlautenden Worten in Obacht." Da brach ein stürmischer Jubel des höheren Gelehrsamkeits bewußtseins von allen Lippen; frohlockend hielt man mir ein Rechtschreibungsbuch „gedruckt in diesem Jahr" entgegen u»d rief: „Nein, man schreibt Beides richtig ohne h!" Eine Stimme fügte drein: „Ich glaube, der Papa weiß auch nicht, wie man Ton als Laut und als Lehm schreibt!" und mir klang's wie ein Gemurmel aus der Ecke: „Wir nicht, sondern der Papa ist dumm." Ich vermuthe, die alte Erfahrung, daß nur der erste Schritt ein schwieriger sei, hatte sich bei mir geltend gemacht, so daß ich durch die mir unwillkürlich entfahrene Auseinandersetzung zu meiner bedenklich mit Verlust bedrohten Selbstachtung zurück gelangt war, denn ich entgegnete jetzt mit einer gewissen Nach drücklichkeit: „Seid Ihr denn so einfältig, etwas nicht selbst zu begreifen, was genau so unbezweifelbar ist, als daß zweimal zwei vier ausmacht und nicht fünf?" Mein Gesicht hatte vielleicht einen etwas ernsthafteren Aus druck angenommen, der nicht wohl mehr zu der pädagogischen Spaßlust der neuen Orthographen stimmte, denn sie sahen mich ein Weilchen verstummt und ziemlich verdutzt an, bis sich ein Mund kleinlaut zu der Aeußerung aufthat: „Aber wir dürfen in der Schule nicht anders schreiben, sonst müssen wir nachsitzen und bekommen Tatzen." „Ja so", antwortete ich, „die Staatsbüttel des legislatori schen Geheimraths! Dann wollen wir einmal kurz ein ebenso verständiges als ernsthaftes Wort miteinander reden, lieben Kinder. So nehmt Eure prügeldrohende, neu-orthographische Weisheit mit dem übrigen reichlichen Unsinn in den Kauf, den ihr nach einem delphischen Orakelspruch der Philologie ,nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernt'. Ich hoffe, Euch so viel ge sunde Menschenvernunft als Erbtheil Übermacht zu haben, daß Ihr selbst über kürzer oder länger einsehen werdet, der Spruch sei in Betreff Eurer meisten täglichen Unterrichtsbescherungen genau richtig, wenn Ihr ihn umkehrt; Eines aber bitte ich mir unbe dingt aus — und dazu wird Euch die häusliche Lcctüre unserer dichterischen, historischen und sonstigen Classiker ausreichend be hilflich sein — daß Ihr, sobald Ihr Eurer Schule den Rücken dreht, mit dem Staub derselben von den Füßen auch den ortho graphischen Geheimrathsplunder aus dem Kopf klopft, ihn dahin werft, wohin er gehört, und Euch von den Narren und Unge bildeten dadurch unterscheidet, daß Ihr nicht nur anständig deutsch sprecht, sondern auch anständig deutsch schreibt, wie die organische Entwickelung unserer Schreibweise es mit sich gebracht und festgesetzt bat. Wollt Ihr da und dort, wo es ohne Nach theil geschehen kann, ein Dehnungszeichen fortlassen, so thut Ihr dies höchst wahrscheinlich nicht als Einzelne, sondern mit vielen Tausenden gemeinschaftlich, weil eben das, was wir, ohne es de- finiren zu können, den Sprachgeist benennen, bald hier, bald dort bei einem Wort solche Veränderung vornimmt. Im klebri gen wehre ich Niemandem, in weitester Ausdehnung ein Narr auf eigene Hand zu sein; das ist seine Privatsache und thut er auf seine Gefahr. Was ich von Euch verlange, ist nur, daß Ihr die Unwürdigkeit voll empfindet, ein großes Volk durch einen
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